Geschlossene Gesellschaft
glaubte ihm. Als Vasaritch das Mädchen losließ, fiel mein Blick auf Karl und Pierre, die den Vorfall überhaupt nicht bemerkt zu haben schienen. Dann schaute ich über das Deck zur Leiter, die in die Quartiere führte. Klaus lehnte dort mit gekreuzten Armen an der Reling und starrte mich direkt an. Andere Männer, andere Methoden. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, wer diese Männer sein würden und welcher Methoden sie sich bedienten, aber die Drohung war echt. Meine Verwicklung in Dianas Zukunft war keine freiwillige Angelegenheit mehr. Sie war notwendig geworden - sowohl für sie als auch für mich.
»Klaus könnte Sie nach San Michele bringen«, schlug Faraday vor.
»Ich ziehe es vor, selbst dorthin zu fahren.«
»Aber Sie werden hinfahren?« verlangte Pierre zu wissen.
»Ja«, gab ich zurück und schaute sie alle der Reihe nach an, um sicherzugehen, dass sie mich verstanden. »Ich werde hinfahren.«
Sobald ich sicher sein konnte, dass die Beerdigung vorbei war und die Wingates längst gegangen waren, ging ich zu den Fondamenta Nuove und nahm den nächsten Vaporetto nach San Michele. Der Friedhof war - bis auf die Toten - verlassen, wie ich es gehofft hatte. Hohe Mauern und Zypressen schützten ihn vor dem Wind. In einer der überwachsenen Ecken, die für Fremde, Protestanten und verschiedene Abtrünnige reserviert war, sah ich einen frisch aufgeworfenen Hügel und ein einzelnes Gebinde mit frischen weißen Lilien. »Unserem lieben Sohn Max« stand auf der Karte. »Du bist viel herumgestreunt, hast aber unsere Gedanken nie verlassen.« Ich stand da, ohne Blumen und ohne eine Hymne zu singen, beschämt von dieser blinden elterlichen Liebe.
Wie lange ich dort gestanden, auf die letzte Ruhestätte meines Freundes gestarrt hatte und hilflos der Flut der Erinnerungen ausgesetzt war, wusste ich nicht. Es mochten fünfzehn Minuten oder fünfzig gewesen sein. Doch plötzlich war ich nicht mehr allein.
»Hallo, Guy.« Sie war ganz in Weiß gekleidet und schaute mich mit einer eigenartigen Eindringlichkeit an. »Du konntest also auch nicht fortbleiben«, stellte sie leise fest. Sie beugte sich vor und ließ einen kleinen Strauß blutroter Rosen auf das Grab fallen. Eine Karte war nicht dabei. Ihr schienen die Worte ausgegangen zu sein, und mir drohte im Moment dasselbe.
»Tut mir leid«, begann ich schließlich. »Es tut mir leid, dass sie dich nicht am Gottesdienst haben teilnehmen lassen.«
»Das ist nicht deine Schuld. Und hoffentlich nicht meine, dass du ebenfalls nicht teilnehmen durftest.«
»Niemand hat schuld. Sie nicht, wir nicht und auch Max nicht.«
Sie stand einen Moment mit gesenktem Kopf schweigend neben mir. Dann schaute sie zu mir hoch. »Wie ist es dir gegangen, Guy - in den letzten Tagen?«
»Ziemlich mies. Und dir?«
»Auch.«
»Ich wollte nicht so von dir gehen, Diana. Ich habe mir ein dutzendmal gewünscht, dass ich diese wenigen Minuten, nachdem Vita den Raum verlassen hatte, anders genutzt hätte.« Hätte ich das auch gesagt, wenn ich nicht Faradays Begehren zugestimmt hätte? Meinte ich es wirklich? Oder gaukelte mir die Notwendigkeit vor, dass ich es wirklich so meinte ?
»Ich habe mir dasselbe gewünscht, Guy.« Wir verschränkten unsere Finger so instinktiv ineinander, dass keiner sagen konnte, wer zuerst die Hand ausgestreckt hatte. »Warum versuchen wir es nicht noch einmal? Warum geben wir uns nicht ein bisschen mehr Zeit?«
»Das würde ich gern tun.«
»Wir müssen beide bis zur Untersuchung hier bleiben. Und die ist erst in mehr als zwei Wochen.« »Das hat Faraday mir auch gesagt.«
»Hat er dir auch gesagt, dass er Venedig verlässt?«
»Nein.«
»Offenbar morgen. Also wirst du keine Angst mehr haben müssen, dass er hereinplatzt. Falls du wieder zurück in die Villa ziehst, meine ich.«
Jetzt schauten wir uns länger an als nur diesen kurzen Moment, den wir bisher riskiert hatten. Ihre Blicke weckten die Erinnerung an das, was wir getan hatten, und stellten die Frage, was wir noch tun würden. Möge Gott mir vergeben. Max jedenfalls würde es nicht tun.
»Es... es wird nicht leicht sein, Guy. Darauf zu warten, dass... unser unmoralisches Verhalten... vor Gericht bloßgestellt wird. Doch es könnte wenigstens erträglich sein, wenn wir gemeinsam warteten.«
»Es war nicht unmoralisch.«
»Nein. Aber einige werden es trotzdem behaupten.«
»Lass sie.«
»Das werde ich auch. Wenn du mir die Kraft gibst, mich nicht um das zu kümmern, was sie sagen.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher