Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
Mantel des Schweigens breiten.
Sollten wir nach diesen Erfahrungen das Wagnis eines Desserts noch eingehen? Dem Mutigen gehört die Welt! Mittlerweile fühlten wir uns auch von den drei Kellnern nicht mehr gestört, da sie uns nach dem Abräumen unseres nur zu einem Bruchteil geleerten Tellers weitgehend in Ruhe ließen, um nicht zu sagen ignorierten. Ohne noch einmal nach unseren Wünschen gefragt zu haben, servierte man uns die Millefeuille von schwarzer Schokolade und Waffel mit Himbeeren und Kokoseis. Wenn man von der Zahnschmerz verursachenden Süße einmal absieht und davon, dass die Millefeuille eher zäh als krokant war – die Idee hinter dieser Nachspeise zumindest war beachtenswert.
Wir zahlten. Die Rechnung war horrend. Aber auch darüber will sich VBS lieber in Schweigen hüllen. Außerdem wollten wir mit diesen Zeilen keineswegs Sie alle daran hindern, sich Ihr eigenes Urteil zu bilden, in welche Richtung sich dieses einst hochgelobte Traditionsrestaurant entwickelt hat.
Hochachtungsvoll!
Ihr ergebener Victor B-Savarin
P. S. Um nicht Hungers zu sterben nach dieser Tour d’horreurs, beschlossen wir, noch bei unserem Lieblingsitaliener um die Ecke vorbeizuschauen. Giovanni bereitete uns Spaghetti alla Carbonara und Sie können es sich denken: Wir ließen keinen Krümel davon übrig.
P. P. S. Wir wollen dem geneigten Leser nicht vorenthalten, dass die Ulmenschenke unterdessen ihre Pforten geschlossen hat und in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. So kann es kommen, wenn der Wirt der beste Kunde in seinem eigenen Weinkeller ist … Traurig, traurig. Wir sind jedenfalls höchst gespannt, wie lange wir warten müssen, bis irgendein Prinz diesen außergewöhnlichen Ort wach küssen und zu neuem Leben erwecken wird.
Fasziniert klickte sich Angermüller durch die Seiten von B-Savarins kulinarischem Almanach für Gastrosophie. Es gab am Rand Werbeanzeigen von Weingütern und edlem Küchenzubehör, von Versendern mediterraner Spezialitäten, einem Schokoladenhersteller und anderen Versorgern von Menschen mit kulinarischem Anspruch, die allerdings auch über das nötige Kleingeld verfügen mussten. Angermüller suchte auf der Website nach einer Anzeige der Feinkostmanufaktur Landglück, ohne eine entdecken zu können. Auch in den redaktionellen Beiträgen wurde er erstaunlicherweise nicht fündig. Und dann vertiefte er sich in eines von Hagebuschs Lobliedern mit ihrem ganz eigenen Ton.
Ein neuer Stern am Genusshimmel – die Villa Ilsebill
Wir waren im Himmel, im siebenten Himmel der Kochkunst! Wo sollen wir anfangen, wo aufhören, die Frau zu preisen, die uns vorher nie erlebte Genüsse bereitete? Gelegen hoch über der Lübecker Bucht, mit einem weiten Blick über die Ostsee, die Einrichtung von eleganter Schlichtheit, empfing uns in diesen heiligen Hallen eine kleine Truppe freundlicher, kundiger Kellnerinnen und Kellner, die sich von der ersten Sekunde an nur einem verpflichtet fühlten: dem Wohlergehen des Gastes.
Die Meisterin ist durch und durch vom Regionalen beseelt, nutzt, was Meer, Wald und Feld an natürlichen Köstlichkeiten hergeben, kocht im Einklang mit dem Rhythmus der Jahreszeiten. Es war im Juni, als wir bei Ilsebill zu Gast waren, und man empfahl uns einen erfrischenden Crémant d’alsace mit Holunderblütensirup als Apéritif, der uns hochzufrieden machte. So eingestimmt grüßte uns die Küche mit einer Komposition von Ostseekrabben in Zitronenmayonnaise auf geröstetem Schwarzbrot. Unsere Geschmacksknospen begannen sich erwartungsvoll zu öffnen.
Der stets aufmerksame, aber unaufdringliche Service empfahl uns einen Riesling aus Rheinhessen zur Vorspeise, dem Duo aus weißem und grünem Spargel auf buttergerösteten Briochebröseln mit drei begleitenden Saucen – grüne Hollandaise mit Rauke, Sauce Bernaise, Himbeervinaigrette. Es war die perfekte Harmonie! Wir begannen zu schweben …
Angermüller versagte sich, nun auch noch die Hymnen auf den Hauptgang und das Dessert zu lesen. Ihm wurde die Lobhudelei langsam zu viel. Nur den Schluss führte er sich noch zu Gemüte:
Unsere verehrten Leser wissen, dass VBS es sich wirklich nicht leicht macht und nach bestem Wissen und Gewissen berichtet und urteilt. Im Fall der Villa Ilsebill ziehen wir in aller Demut den Hut und sagen: Gehet hin, besuchet jenen Tempel der Kochkunst und lasset euch von der Göttin am Herd verführen!
Untertänigst
Ihr verzauberter Victor B-Savarin
P. S. Wie lange
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