Geschöpfe Der Ewigkeit
Orakel, die Seherin. Warum gibst du es nicht einfach zu?«
Sie ist geschmeichelt, aber wirkt gleichzeitig merkwürdig unbewegt.
»Vielleicht kann ich es nicht, weil ich nicht sehe, was als nächstes geschehen wird.« Sie macht eine Pause, bevor sie fortfährt. »Allerdings wußte ich, daß du in Los Angeles etwas sehr Altem begegnen würdest.«
Ich senke meine Stimme. »Dann weißt du also, wer sie war?«
Sie schüttelt den Kopf. »Es war nur ein bestimmtes Gefühl, nicht mehr.« Sie beugt sich vor, berührt das klare Wasser und anschließend Johns Füße, um fest-zustellen, ob sie zu kalt werden. Mit ernster Stimme fügt sie hinzu: »Interessant, auf welche Weise sie von der Ernte sprach.«
»Ja, ich habe es nicht verstanden. Von was für einer Ernte hat sie geredet?«
Paula überlegt, wobei ihr Blick in weite Ferne gerichtet ist, genau wie ich es damals so oft bei Suzama gesehen habe.
»Bald wird eine Zeit kommen«, sagt sie, »in der sich alles ändert. Ich habe es in Bildern gesehen, die man landläufig Visionen nennen könnte, die aber keine Visionen waren. Die Menschen werden sich entweder vorwärts bewegen oder aber das wiederholen, was sie schon einmal getan haben.«
Darüber muß ich nachdenken.
Suzama hat ihre Prophezeiungen niemals beiläufig und ohne Grund gemacht.
»Auf was werden sich die Menschen hinbewegen?« frage ich.
»Auf eine vollkommen andere Art zu leben. Eine Art, die wir uns jetzt, so wie wir hier sitzen, noch nicht einmal vorstellen können. Doch diejenigen, die vorwärts gehen, werden voller Erleuchtung und Segen leben.«
»Aber Heidi war schlecht. Warum sollte sie etwas für eine derartige Ernte oder Auslese tun?«
Paula trocknet Johns Füße und wärmt sie dann in ihrem Schoß. »Es gibt zwei Arten der Ernte«, sagt sie. »Es gibt zwei Arten von Menschen. Diejenigen, die anderen dienen, und diejenigen, die nur sich selbst dienen. Doch das weißt du; es ist nicht neu für dich. Natürlich ist niemand ganz das eine oder ganz das andere. Niemand ist hundert Prozent Sünder oder hundert Prozent Heiliger.
Doch dort, wo das Selbstinteresse vorherrscht, wird dem Menschen eine negative Ernte gewiß sein. Dort, wo Liebe vorherrscht, wird die Ernte positiv sein.«
»Weißt du das sicher?«
»Ja.«
»Suzama…«, beginne ich.
Sie lächelt. »Paula. Bitte?«
»Also Paula. Wann wird diese Ernte stattfinden?«
»Der Zeitpunkt steht noch nicht fest. Aber irgendwann innerhalb der nächsten fünfundzwanzig Jahre wird es soweit sein.«
»Wird diese Ernte jeden betreffen?«
»Nein.«
»Was sind die Kriterien?«
»Ich wußte, daß du das fragen würdest. Die Kriterien sind für beide Seiten gleich, in positiver wie in negativer Hinsicht. Aber es hat nichts mit religiöser Überzeugung zu tun, besonderer Bildung, körperlicher Stärke oder Schönheit und sozialer Stellung. Keine dieser Qualitäten wird wichtig sein.«
»Welche Kriterien werden dann entscheiden?« wiederhole ich.
»Das ist schwer zu beschreiben.«
Ich bin enttäuscht. »Versuche es doch wenigstens.«
Paula lacht, und auch ihr Kind verzieht das Gesicht zu einem Lächeln. Die meiste Zeit über ist John ein wirklicher Wonneproppen, aber natürlich schreit er wie alle Babys auch manchmal nachts das ganze Haus zusammen. Wie oft habe ich dann schon seine Windeln gewechselt, damit Paula nicht aufzustehen brauchte. Seitdem ich das Blut meiner Tochter getrunken habe, brauche ich nur noch wenig Schlaf.
»Das Leben ist das entscheidende Kriterium«, sagt sie schließlich. »Wer lebt
– und wer lebt nicht. Vergiß nicht, daß die Üblen lebendiger sein können als die Guten.« Sie boxt mich in den Arm. »Sieh zum Beispiel dich selbst.«
Plötzlich bin ich wieder ihre unwissende Schülerin, wie ich es schon einmal war, und so ist es nicht erstaunlich, daß mich ihre Bemerkung verletzt. Es wundert mich immer wieder, wie sehr sich unsere Beziehung verändert hat.
Damals, als wir uns kennenlernten, war ich diejenige, welche die Geheimnisse des Lebens kannte. Jetzt fühle ich mich ihr unterlegen und scheine an ihren Lippen zu hängen, um ihre Erfahrungen zu teilen. Geheimnisse umgeben sie wie ein Glorienschein.
Ich liebe sie noch immer über alles, aber gleichzeitig ängstigt sie mich.
»Gehöre ich wirklich zu den Üblen?« frage ich leise.
Sie lacht. »Dumme Vampirin. Sei bitte nicht albern! Wer, wenn nicht du, ist jederzeit bereit, sein Leben für einen anderen herzugeben?«
Ich zucke mit den Schultern, was einigermaßen
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