Geschöpfe der Nacht
linken, andere bahnten sich mühsam den Weg in genau die umgekehrte Richtung, als teilten diese primitiven Mollusken die Rastlosigkeit der Menschen und deren Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen.
Ich schob das Fahrrad wiederholt von links nach rechts, um den Schnecken auszuweichen, und obwohl Orson beim Vorbeigehen an ihnen schnüffelte, trat er einfach nur über sie hinweg.
Hinter uns erklang das Knirschen zerstampfter Häuser, das Schmatzen gallertiger Körper, die unter Schuhsohlen zerquetscht wurden. Stevenson trat nicht nur auf die Schnecken direkt in seinem Weg, sondern auf alle unglücklichen Gastropoden, die er sah. Einige starben mit einem schnellen Schnappen, aber auf andere trampelte er geradezu, senkte den Fuß mit solcher Wucht, daß das Klatschen der Sohle auf dem Beton wie ein Hammerschlag klang.
Ich drehte mich nicht zu ihm um.
Ich fürchtete mich davor, die grausame Freude zu sehen, an die ich mich nur zu gut von den Gesichtern der jungen Rabauken erinnerte, die mich während meiner Kindheit gequält hatten, bevor ich klug und groß genug war, mich zu wehren. Obwohl einem dieser Ausdruck schon an die Nerven ging, wenn man ihn bei einem Kind sah, war er – die Knopfaugen, die die von Reptilien zu sein schienen, auch ohne die elliptischen Pupillen, die vor Haß geröteten Wangen, die blutleeren Lippen, die von vor Speichel leuchtenden Zähnen zu einem Schnauben zurückgezogen waren – auf dem Gesicht eines Erwachsenen unermeßlich furchteinflößender, besonders, wenn der Erwachsene eine Pistole in der Hand hielt und einen Sheriffstern trug.
Stevensons Streifenwagen stand im Halteverbot zehn Meter links vom Eingang des Jachthafens, außerhalb der Reichweite der Lampen, im tiefen nächtlichen Schatten unter den weit ausgebreiteten Ästen eines riesigen Lorbeerbaums.
Ich lehnte das Rad gegen den Baumstamm, auf dem der Nebel wie ein flechtenartiger Moosbewuchs hing. Schließlich drehte ich mich vorsichtig zum Chief um, der gerade die hintere Tür auf der Beifahrerseite des Streifenwagens öffnete.
Selbst in der Nebelnacht erkannte ich den Ausdruck auf seinem Gesicht, vor dem ich mich so gefürchtet hatte: der Haß, der irrationale, aber nicht zu besänftigende Zorn, der manche Menschen zu den tödlichsten Geschöpfen auf unserem Planeten macht.
Nie zuvor hatte Stevenson mir diese boshafte Seite seines Wesens enthüllt. Ich hatte immer den Eindruck gehabt, als könnte er ganz einfach nicht unfreundlich sein, ganz geschweige denn haßerfüllt. Hätte er plötzlich verraten, daß er gar nicht der echte Lewis Stevenson war, sondern eine außerirdische Lebensform, die den Chief nachbildete, ich hätte ihm geglaubt.
Stevenson winkte mit der Waffe und wandte sich an Orson: »Steig ein, Junge.«
»Er kommt hier draußen schon klar«, sagte ich.
»Rein in den Wagen«, befahl er dem Hund.
Orson betrachtete die offene Autotür mißtrauisch und jaulte argwöhnisch.
»Er wird hier warten«, sagte ich. »Er läuft nie davon.«
»Ich will, daß er einsteigt«, sagte Stevenson kalt. »Wir haben hier in dieser Stadt Anleinpflicht, Snow. Bei dir haben wir nie darauf gepocht. Wir haben immer in die andere Richtung geschaut, so getan, als würden wir nichts sehen, wegen… weil ein Hund davon ausgenommen ist, wenn er einem Behinderten gehört.«
Ich wollte Stevenson nicht noch weiter gegen mich aufbringen, indem ich den Begriff »Behinderter« zurückwies. Außerdem interessierte mich weniger dieses eine Wort als die anderen, die er fast gesagt hätte, bevor er sich zusammenriß: wegen deiner Mutter.
»Aber diesmal«, sagte er, »werde ich nicht einfach zusehen, wie der verdammte Hund allein herumläuft, auf den Bürgersteig scheißt und sich darüber freut, daß er nicht angeleint ist.«
Zwar hätte ich auf den Widerspruch in seinen Worten hinweisen können: Wenn der Hund eines Behinderten von der Anleinpflicht ausgenommen ist, freut er sich nicht darüber, daß er nicht angeleint wird, sondern hält das für ganz normal. Aber ich schwieg. Solange Stevenson so feindselig gestimmt war, war er sicher keinem Argument zugänglich.
»Wenn er nicht in den Wagen steigt, wenn ich es ihm befehle«, sagte Stevenson, »wirst du ihn dazu bringen.«
Ich zögerte, suchte nach einer akzeptablen Alternative, um ihn nicht vollends gegen mich aufzubringen. Von Sekunde zu Sekunde schien unsere Lage gefährlicher zu werden. Ich hatte mich sicherer gefühlt, als wir in dem alles verdüsternden Nebel auf der Halbinsel
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