Geschöpfe der Nacht
wollen.
Über der Erde, vor dem Hangar, stand mein Fahrrad noch dort, wo ich es abgestellt hatte. Auch die Sterne waren noch dort, wo ich sie zurückgelassen hatte.
Ich radelte zurück durch den Randbezirk der Totenstadt auf Moonlight Bay zu, wo der Nebel – und anderes – auf mich wartete.
FÜNF
Kurz vor Morgengrauen
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Das Haus im Nantucket-Stil mit seiner dunklen Holzverkleidung und der tiefen, weißen umlaufenden Veranda scheint, als der Kontinent mal kurz und unbemerkt umgekippt war, fünftausend Kilometer weit gerutscht und hier in den kalifornischen Hügeln über dem Pazifik zur Ruhe gekommen zu sein. Allerdings paßt es besser in die Landschaft, als alle Logik das erwarten läßt. Von Nußkiefern beschattet, sitzt es ziemlich weit vorn auf dem viertausend Quadratmeter großen Grundstück und strahlt den Charme, die Anmut und Wärme der liebevollen Familie aus, die in seinen Mauern wohnt.
Alle Fenster waren dunkel, doch schon ziemlich bald würde hinter einigen von ihnen Licht auszumachen sein. Rosalina Ramirez stand immer früh auf, um ein üppiges Frühstück für ihren Sohn Manuel zuzubereiten, der bald von der Doppelschicht nach Hause kommen würde – vorausgesetzt, der umfangreiche Papierkram im Zusammenhang mit Chief Stevensons Ableben hielt ihn nicht allzusehr auf. Da Manuel besser kochen konnte als seine Mutter, hätte er sich das Frühstück lieber selbst gemacht, aber er aß, was sie ihm vorsetzte, und lobte es. Rosalina schlief offenbar noch; sie war in das große Zimmer gezogen, das früher das Schlafzimmer ihres Sohnes gewesen war, einen Raum, den er nicht mehr benutzt hatte, seit seine Frau bei Tobys Geburt gestorben war.
Am Rand eines breiten Hofs steht eine kleine Scheune mit einem Mansardedach, holzverkleidet wie das Haus und mit Fenstern, die mit weißen Schlagläden versehen sind. Da das Grundstück am äußersten südlichen Ende der Stadt liegt, kann man von dort aus problemlos Reitwege und die offenen Hügel erreichen; der ursprüngliche Besitzer hatte Pferde in der Scheune untergebracht. Nun ist das Gebäude ein Studio, in dem Toby Ramirez aus dem Werkstoff Glas neue Lebenskraft bezieht.
Als ich mich durch den Nebel näherte, sah ich Licht hinter den Fenstern. Toby wacht oft lange vor Morgengrauen auf und geht ins Studio.
Ich lehnte das Fahrrad gegen die Scheunenwand und ging zum nächstgelegenen Fenster. Orson kam an meine Seite, legte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und schaute hinein.
Wenn ich Toby einen Besuch abstatte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen, betrete ich das Studio normalerweise nicht. Die Neonröhren unter der Decke sind viel zu hell. Und da man Borat-Glas bei Temperaturen von über eintausendzweihundert Grad Celsius bearbeitet, strahlt es gewaltige Mengen intensiven Lichts aus, das für die Augen aller Menschen schädlich ist, nicht nur für die meinen. Wenn Toby mal eine Pause macht, schaltet er das Licht aus, und dann unterhalten wir uns eine Weile.
Nun saß Toby an dem Tisch, auf dem er das Glasblasen betrieb. Er trug eine Brille mit Didymlinsen, und vor ihm stand ein Multi-Flammenbrenner der Marke Fisher. Er hatte gerade eine anmutige, birnenförmige Vase mit einem langen Hals geblasen, die noch so heiß war, daß sie golden und rot leuchtete; er kühlte sie gerade ab.
Wenn ein Stück Glas plötzlich aus einer heißen Flamme genommen wird, kühlt es normalerweise zu schnell ab, spannt sich – und zersplittert. Um den Gegenstand zu erhalten, muß man ihn in behutsamen Schritten abkühlen.
Die Flamme wurde von Erdgas gespeist, in das man reinen Sauerstoff aus einem am Glasbläsertisch befestigten Druckbehälter mischte. Während des Abkühlens drosselte Toby die Sauerstoffzufuhr, verringerte damit die Temperatur der Flamme und gab so den Glasmolekülen Zeit, stabilere Positionen einzunehmen.
Wegen der zahlreichen Gefahren, die mit dem Glasblasen verbunden waren, hielten manche Bewohner Moonlight Bays es für unverantwortlich von Manuel, seinem am Down-Syndrom leidenden Sohn zu erlauben, dieses technisch anspruchsvolle Kunsthandwerk auszuüben. Einige Leute phantasierten über mögliche Feuersbrünste, prophezeiten sie und erwarteten sie wahrscheinlich sogar voller Ungeduld.
Ursprünglich hatte sich niemand Tobys Traum stärker widersetzt als Manuel. Fünfzehn Jahre lang hatte die Scheune Carmelitas älterem Bruder Salvador, einem erstklassigen Glaskünstler, als Studio gedient. Als Kind hatte Toby unzählige Stunden bei seinem Onkel verbracht,
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