Geschöpfe der Nacht
sich eine Brille aufgesetzt, dem Meister bei der Arbeit zugesehen und dann und wann Kevlarfäustlinge angelegt, um eine Vase oder eine Schüssel aus dem Abkühlofen zu nehmen. Obwohl er während dieser vielen Stunden lediglich staunend, mit begriffsstutzigem Blick und beschränktem Lächeln zuzusehen schien, hatte er in Wirklichkeit gelernt, ohne daß man ihm etwas beibrachte. Um sich etwas anzueignen, brauchen die intellektuell Benachteiligten oft übermenschliche Geduld. Toby saß Tag für Tag, Jahr für Jahr im Studio seines Onkels, beobachtete und lernte langsam. Als Salvador vor zwei Jahren starb, fragte Toby – damals erst vierzehn Jahre alt – seinen Vater, ob er das Werk seines Onkels fortsetzen dürfe. Manuel nahm die Bitte nicht ernst und versuchte seinen Sohn behutsam davon abzubringen, diesem unmöglichen Traum weiterhin nachzuhängen.
Eines Morgens fand er Toby vor Anbruch der Morgendämmerung im Studio. Am Ende des Arbeitstisches lag eine Familie schlichter glasgeblasener Schwäne auf der feuerfesten Ceranplatte. Neben den Schwänen stand eine gerade abgekühlte Vase, die einige genau berechnete und zueinander passende Unreinheiten aufwies, die sich als geheimnisvolle, mitternachtsblaue Spiralen und ein silbernes Funkeln präsentierten, das wie Sternenlicht aussah. Manuel wußte sofort, daß dieses Stück den schönsten Vasen gleichkam, die Salvador je geschaffen hatte; und Toby kühlte in diesem Augenblick bereits ein zweites, genauso atemberaubendes Stück ab.
Der Junge hatte die technischen Aspekte des Glasblasens von seinem Onkel in sich aufgenommen, und obwohl er leicht zurückgeblieben war, wußte er offensichtlich, wie man vorgehen mußte, um sich nicht zu verletzen. Auch die Magie der Genetik spielte eine Rolle, denn er hatte ein bemerkenswertes Talent, das man nicht erlernen konnte. Er war nicht nur Handwerker, sondern ein wahrer Künstler, und vielleicht nicht nur Künstler, sondern ein idiot savant, in dem sich die Inspiration des Künstlers und die Techniken des Handwerkers mit der Leichtigkeit vereinten, mit der Wellen ans Ufer brechen.
Geschenkeläden in Moonlight Bay, Cambria und sogar ziemlich weit oben im Norden, in Carmel, verkauften sämtliche Glasware, die Toby produzierte. In ein paar Jahren würde er von seiner Kunst vielleicht sogar leben können.
Manchmal wirft die Natur denen, die sie benachteiligt, einen Knochen zu. Man denke nur an meine Fähigkeit, mit einigem Geschick Wörter und Sätze zusammenzufügen.
Nun flackerte im Studio orangefarbenes Licht auf und bauschte sich über der großen, buschigen Abkühlflamme. Toby drehte die birnenförmige Vase vorsichtig, damit sie von allen Seiten gleichmäßig vom Feuer gebadet wurde.
Mit einem dicken Hals, runden Schultern und entsprechend kurzen Armen und stämmigen Beinen hätte er ein Zwerg aus einem Märchenbuch sein können, der ein Feuer tief in der Erde hütete. Seine Stirn war abschüssig und wulstig, das Nasenbein flach. Die Ohren saßen zu tief an einem Kopf, der etwas zu klein für den Körper war. Die weichen Gesichtszüge und die schrägen Lidspalten der Augen verliehen ihm einen ständig verträumten Ausdruck.
Als ich Toby jetzt auf seinem hohen Arbeitsstuhl sah, wie er das Glas in der Flamme drehte, die Sauerstoffzufuhr mit intuitiver Präzision regulierte, das Gesicht vor reflektiertem Licht schimmernd, die Augen hinter der Didymbrille verborgen, kam er mir jedoch in keiner Weise unterdurchschnittlich vor, schien er nicht im geringsten von seinem Zustand behindert zu werden. Ganz im Gegenteil, wenn man ihn in seinem Element sah, beim Schöpfungsakt, wirkte er geradezu erhaben.
Orson schnaubte beunruhigt. Er nahm die Vorderpfoten vom Fenster, wandte sich vom Studio ab und ging mißtrauisch in Kauerstellung.
Als ich mich ebenfalls umdrehte, sah ich, daß eine schemenhafte Gestalt über den Hof in unsere Richtung kam. Ich erkannte sie sofort an ihrem lässigen Gang. Es war Manuel Ramirez: Tobys Dad, der Polizist, der den zweithöchsten Rang in Moonlight Bay bekleidete, doch nun zumindest befristet, wegen des Feuertods seines Chefs, die Leiter hinaufgefallen war.
Ich steckte beide Hände in die Jackentaschen. Die rechte Hand schloß ich um die Glock.
Manuel und ich waren Freunde. Ich würde mich nicht wohl fühlen, eine Waffe auf ihn zu richten, und ich brachte es ganz bestimmt nicht über mich, ihn zu erschießen. Es sei denn, er war nicht mehr Manuel. Es sei denn, er war – wie Stevenson – zu einem
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