Geschöpfe der Nacht
mir.«
Nichts.
»Ich habe nicht mal mehr vor, mich an Behörden außerhalb zu wenden. Es ist zu spät, um ungeschehen zu machen, was geschehen ist. Das akzeptiere ich.«
Das Echo meiner Stimme verblich allmählich. Wie es manchmal der Fall war, füllte der ovale Raum sich mit einem unheimlichen Schweigen, das sich so dicht wie Wasser anfühlte.
Ich wartete eine Minute, bevor ich dieses Schweigen wieder brach: »Ich will nicht, daß Moonlight Bay ohne guten Grund von der Landkarte gefegt wird und ich und meine Freunde dazu. Ich will jetzt nur noch verstehen, was passiert ist.«
Niemand wollte mich aufklären.
Ich war nicht enttäuscht. Ich habe mir nur selten erlaubt, wegen irgend etwas Enttäuschung zu empfinden. Die Lektion meines Lebens ist Geduld.
Oberhalb dieser von Menschenhand geschaffenen Höhlen näherte sich jetzt schnell die Dämmerung, weshalb ich nicht mehr viel Zeit für Fort Wyvern erübrigen konnte. Ich mußte nur noch einen sehr wichtigen Besuch machen, bevor ich mich in Sashas Haus zurückzog, um dort das Ende der Herrschaft der mörderischen Sonne abzuwarten.
Orson und ich überquerten den schwindelerregenden Boden, in dem der Strahl der Taschenlampe von golden leuchtenden Wirbeln reflektiert wurde, die wie kleine Galaxien unter meinen Füßen aussahen.
Hinter dem Eingangsportal, in dem tristen Betongewölbe, das vielleicht einmal eine Luftschleuse gewesen war, fanden wir den Koffer meines Vaters. Denjenigen, den ich in der Krankenhausgarage abgestellt hatte, bevor ich mich unter dem Leichenwagen versteckt hatte, und der verschwunden war, als ich aus dem Kühlraum gekommen war.
Als wir vor fünf Minuten durch diesen Raum gegangen waren, hatte er natürlich noch nicht dort gestanden.
Ich trat um den Koffer herum in den Raum hinter dem Gewölbe, und ließ den Lichtstrahl durch ihn gleiten. Niemand war dort.
Orson wartete gewissenhaft bei dem Koffer, und ich kehrte zu ihm zurück.
Als ich den Koffer hochhob, war er so leicht, daß ich glaubte, er müßte leer sein. Dann hörte ich leise etwas darin fallen.
Als ich die Verschlüsse öffnete, krampfte mein Herz sich vor Befürchtung zusammen, ich würde darin ein weiteres Paar Augäpfel finden. Um dieses schreckliche Bild zurückzudrängen, beschwor ich vor meinem geistigen Auge Sashas hübsches Gesicht herauf, und mein Herz schlug wieder.
Als ich den Deckel öffnete, schien der Koffer zuerst nur Luft zu enthalten. Dads Kleidungsstücke, Toilettenartikel, Bücher und andere Besitztümer waren verschwunden.
Dann sah ich das Foto in einer Ecke des Koffers. Es war der Schnappschuß meiner Mutter, der mit meinem Vater eingeäschert werden sollte.
Ich hielt das Bild unter die Taschenlampe. Sie war wunderschön. Und was für eine scharfe Intelligenz in ihren Augen leuchtete!
In ihrem Gesicht sah ich gewisse Merkmale meines eigenen Antlitzes, die mich verstehen ließen, wieso Sasha mich vielleicht doch ganz attraktiv fand. Meine Mutter lächelte auf diesem Foto, und ihr Lächeln ähnelte dem meinen.
Orson schien sich das Foto ebenfalls ansehen zu wollen, und so hielt ich es ihm hin. Sein Blick wanderte lange Sekunden über das Bild. Als er sich schließlich von ihrem Gesicht abwandte, war sein nachfolgendes Winseln der Inbegriff der Traurigkeit.
Wir sind Brüder, Orson und ich. Ich bin die Frucht von Wisterias Herz und Leib. Orson ist die Frucht ihres Verstandes. In unseren Adern fließt nicht dasselbe Blut, aber wir haben Wichtigeres gemeinsam als Blut.
»Tot und begraben«, sagte ich mit dieser gnadenlosen Konzentration auf die Zukunft, die mich im Leben durchkommen läßt, als Orson erneut winselte.
Ich verkniff mir einen weiteren Blick auf das Foto und steckte es in meine Hemdtasche.
Keine Trauer. Keine Verzweiflung. Kein Selbstmitleid.
Meine Mutter ist sowieso nicht ganz tot. Sie lebt in mir und Orson und vielleicht anderen wie Orson weiter.
Trotz aller Verbrechen gegen die Menschheit, derer meine Mutter sich vielleicht schuldig gemacht hat, lebt sie in uns weiter, lebt sie im Elefantenmenschen und seinem ungewöhnlichen Hund weiter. Und mit aller gebotenen Bescheidenheit… ich glaube, die Welt ist ein besserer Ort, weil wir in ihr leben. Wir sind nicht die bösen Buben.
Als wir das Gewölbe verließen, sagte ich »Danke!« zu demjenigen, der mir das Foto zurückgegeben hatte, auch wenn ich nicht wußte, ob er mich hören konnte und trotzdem ich mir keineswegs sicher sein konnte, daß er mir eine Liebenswürdigkeit hatte erweisen
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