Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Märchen betonen Konkurrenz nicht nur als notwendigen Motor für die eigene Entwicklung; sie gehen darüber hinaus: Konkurrenz kann auch zu einem wichtigen Prinzip für Kooperation und Koexistenz werden. Viele Geschwister, ob Brüder, ob Schwestern, ob Brüder und Schwestern, ob berühmt oder nicht, zeigen immer wieder, wie dieses Prinzip einer gesunden Konkurrenz eine von destruktiver Rivalität freie Beziehung garantiert. Dabei ist nicht entscheidend, ob sie in gleichen oder verschiedenen Berufen arbeiten; wichtig ist die Erfahrung, über ein vergleichbares Potenzial an Entwicklungskräften zu verfügen. Die Weichen dafür werden schon in der Kindheit gelegt. Aber erst im frühen Erwachsenenalter zeichnen sich die Wege deutlicher ab, die die Geschwister ins weitere Leben gehen werden. Nachdem sie sich in der Pubertät und Adoleszenz bei aller noch bestehenden Gemeinsamkeit schrittweise voneinander lösen mussten, steht jetzt auch die äußere Trennung an. Damit erreicht die Geschwisterliebe ihre entscheidende Bewährungsphase. Jeder zieht »hinaus ins Leben«, trennt sich vom Elternhaus, verliert die Geschwister über längere Zeiträume aus den Augen, erlernt einen Beruf, gründet einen eigenen Hausstand, heiratet und bekommt Kinder. Dieser idealtypisch verlaufende Ablösungsprozess ist, gemessen an den langen Jahren der Zusammengehörigkeit, von einer Plötzlichkeit, Radikalität und Neuerung, dass die Geschwisterliebe auf eine harte Probe gestellt wird. Ob sie sie besteht, hängt entscheidend davon ab, wie inKindheit und Jugend die Chancen verteilt waren. Dies wird erst jetzt endgültig erkennbar. Die konstruktive Konkurrenz im Verlauf der bisherigen Lebensgeschichte dient letztlich einer gleichmäßigen und gleichberechtigten Weiterentwicklung der Geschwister, die bedarfsweise für Kooperation und Koexistenz offen bleibt. Die Konkurrenz umfasst alle wichtigen Lebensbereiche wie Beruf, Bildung, Geld, Erfolg, soziales Prestige, die Auswahl der Partner und die Kinder. Ein stärkeres Ungleichgewicht in der Bilanz, die sich jetzt immer deutlicher abzeichnet, führt auf Dauer zu zerstörerischer Ambivalenz, Rivalität und Neid. An ihnen kann die Geschwisterliebe zerbrechen. Von diesem Gesetz sind viele berühmte Bruder-Schwester-Beziehungen der Vergangenheit geprägt, die häufig in der Geschwisterliteratur zitiert werden: Goethe und Cornelia, Mozart und Nannerl, Nietzsche und Elisabeth, Kleist und Ulrike, Büchner und Luise, Conrad F. Meyer und Betsy. 20 Nach einer Zeit wechselseitiger, teilweise schwärmerischer Liebe in der Pubertät und Adoleszenz enden sie in der Regel im Laufe des frühen Erwachsenenalters tragisch durch Tod oder Selbstmord eines Geschwisters oder sind fortan von starken Ambivalenzen zwischen feindlicher Distanzierung, Überbehütung, Aufopferung und Abhängigkeit oder von kalter Gleichgültigkeit geprägt.
Wenn auch die Ursachen für solche Entwicklungen komplexer Natur sind, wird man den Biografen Recht geben müssen, die die genannten Paare als exemplarisch für die ungleichen Entwicklungschancen ansehen, wie sie jahrhundertelang zwischen Männern und Frauen, das heißt aber auch zwischen Brüdern und Schwestern, bestanden. Die daraus resultierenden Beziehungskonflikte müssen umso dramatischer ausfallen, je mehr die bildungsmäßige Benachteiligung der Frauen noch zusätzlich durch unterschiedliche intellektuelle oder künstlerische Begabungen verschärft wird. In diesem Fall stellte undstellt sich noch heute die Frage, inwieweit beide Benachteiligungsformen ineinander greifen, da keine Begabung ohne entsprechende Förderung ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen kann. In jedem Fall schließt ein starkes Ungleichgewicht in den Entwicklungschancen eine konstruktive Konkurrenz aus.
Ein eindrucksvolles Gegenbeispiel zu dem Schicksal der zitierten Bruder-Schwester-Paare bildet das Leben und Schaffen der Brontë-Schwestern. 21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wachsen sie mit ihrem Bruder Branwell in Haworth, einem kleinen Dorf in Cornwall, als Töchter eines strenggläubigen, aber liebevollen und sie fördernden Methodistenpfarrers in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Mutter und zwei Schwestern sterben, als die älteren vier Geschwister noch sehr jung sind. Schon als Kinder retten sie sich aus der Prüderie und moralinsauren Strenge des viktorianischen Zeitalters in eine Traum- und Fantasiewelt, die das begabte Quartett gegen eine düstertraurige und gegen Kinder gewalttätige Realität
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