Geschwister - Liebe und Rivalitaet
dichterischer Einfühlung hat Goethe in dem bereits zitierten Schauspiel »Iphigenie auf Tauris« dieses Thema als Motiv für die Geschwisterliebe zwischen Iphigenie, Orest undElektra eingeflochten. Alle drei sind von ihren Eltern Verlassene: Iphigenie, nachdem sie von Diana vor dem Opfertod bewahrt wurde; Orest und Elektra, die von ihrer Mutter Klytaimnestra nach ihrem Ehebruch mit Ägisthos vernachlässigt und verfolgt werden.
Orest:
»Des Lebens dunkle Decke breitete
Die Mutter schon mir um das zarte Haupt,
Und so wuchs ich herauf, ein Ebenbild
Des Vaters, und es war mein stummer Blick
Ein bittrer Vorwurf ihr und ihrem Buhlen.
Wie oft, wenn still Elektra, meine Schwester,
Am Feuer in der tiefen Halle saß,
Drängt’ ich beklommen mich an ihren Schoß
Und starrte, wie sie bitter weinte, sie
Mit großen Augen an.« 32
Als Orest und Iphigenie sich auf Tauris wiederbegegnen, sind beide Eltern ermordet. Weniger dramatisch und als Metapher verstanden: Der Fluch, der auf dem Geschlecht der Tantaliden lastete, war die Lieblosigkeit und der Hass. Beide inzwischen erwachsenen Geschwister sind noch immer erfüllt von der Sehnsucht nach der früh verlorenen familiären Geborgenheit und Elternliebe, ein Verlust, der sich in der Intensität ihrer Geschwisterliebe widerspiegelt.
Ich erwähne diesen Aspekt der Geschwisterliebe nicht zufällig erst an dieser Stelle. Sicher betrifft die Tatsache, dass Geschwister ersatzweise zu Liebesobjekten gewählt werden, wenn die Liebe der Eltern versagt, alle Lebensperioden. Im Alter bekommt sie jedoch ein besonderes Gewicht. Durch den Tod der Eltern muss zum einen die Hoffnung aufgegeben werden, ihre Liebe eines Tages doch noch zu bekommen; zum anderen erzeugt ihr Verlust besonders in der späten Lebensperiode einenGrad der Einsamkeit, der regressive Anlehnungsbedürfnisse wiederbelebt. Hierin dürfte ein wichtiger Grund liegen, warum es nach der Distanzphase im frühen und mittleren Erwachsenenalter jetzt zu einer Wiederannäherung kommt, bei der die frühe und vom Elterneinfluss unabhängige Geschwisterliebe und das Nähebedürfnis nach dem Verlust der Eltern zusammenfließen. Eine Voraussetzung für die Wiederannäherung scheint jedoch zu sein, dass das regressive Liebesbedürfnis an eine primäre und autonome Geschwisterliebe anknüpfen kann. Beide Komponenten gehören zusammen. Es wäre daher einseitig, Wiederannäherung und späte Geschwisterliebe allein auf den Verlust der Eltern zurückzuführen.
Die Wiederannäherung folgt einem Bewegungsgesetz, wonach alles Lebendige zum Ursprung zurückkehrt. Mit dieser Formulierung ist zugleich der umfassende Sinn der Wiederannäherungsphase beschrieben.
Im Kapitel »Geschwisterliebe und späte Kindheit« bin ich bereits auf die bedeutenden Beobachtungen der Forschergruppe um Margaret Mahler eingegangen, speziell auf die Vorgänge in der Mutter-Kind-Beziehung von Separation, Wiederannäherung und Individuation. Seither blieb der Begriff »Wiederannäherungsphase« auf die früheste Kindheit beschränkt. Ich halte es jedoch für naheliegend, in der Dialektik von Separation und Wiederannäherung ein Grundprinzip alles Lebendigen zu sehen, so, wie Progression und Regression, Bindung und Freiheit eine dynamische Einheit bilden. Es ist das Weggehen, um wieder anzukommen. So können wir auch die Wiederannäherung als Lösung des Konfliktes zwischen Nähe und Distanz auffassen, als Versöhnung, in der sich die gegenläufigen Tendenzen verbinden.
Dieser dialektische Prozess entspricht dem grundsätzlichen Verlauf der Geschwisterbeziehung: Der Phase der Intimität in der Kindheit folgt die Phase der Distanz von der Jugend biszum mittleren Erwachsenenalter und dieser die Phase der Wiederannäherung im Alter. Die Kenntnis dieses dreiphasigen Modells erscheint mir auch von großer praktischer Bedeutung. Viele Geschwisterbeziehungen scheitern daran, dass zeitweilige Distanz oder auch Trennungen zu tiefen Enttäuschungen und Missverständnissen führen. Wenn dagegen der phasische Verlauf als natürliche Bedingung erkannt wird, kann man auch Perioden kritischer Distanz besser verarbeiten und sich mit ihnen versöhnen.
Die Wiederannäherung der Geschwister im hohen Alter wird durch die zweite einschneidende Erfahrung in dieser Zeit vertieft, der langsamen Ablösung von den Kindern. Sie bekommt einen Aufschub durch die Geburt der Enkel, die die Geschwister vor einen neuen und letzten Generationenwechsel stellen. Aus der Elterngeneration
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