Geschwister - Liebe und Rivalitaet
so sichtbar, der Abschied war weniger ritualisiert und dramatisch. Fast hätte man meinen können, dass er den Tod relativ schnell verarbeitet hatte.
Einige Zeit später fuhr ich zu ihm. Nach einem langen Gespräch setzte er sich an den Flügel und spielte mir eine späte Schubert-Sonate vor, die er gerade für ein Konzert einübte. Noch kurze Zeit vor dem Tod des Bruders hatte er gesagt, er könne sie noch nicht spielen, sie sei »das Höchste, was es in der Musik gibt« – so etwa drückte er sich aus. Mein Eindruck beim Zuhören ist schwer zu beschreiben. »Warum kannst du sie jetzt spielen?«, fragte ich danach. Er zuckte mit den Achseln und sagte nur: »Mein Bruder.« Mehr nicht. Es war nicht zu erklären.
Das Erlebnis führt mich zu der Vermutung, dass der Tod eines Geschwisters im höheren Alter nicht weniger schmerzlich erlebt wird als der eines anderen nahen Angehörigen; er wird nur weniger dramatisch verarbeitet und führt zu konstruktiveren Lösungen. Warum? Alle Überlegungen, die ich im ersten Teil des Buches über die Geschwisterliebe angestellt habe, veranlassen mich zu der Annahme, dass die Geschwisterbeziehung in der Regel die ambivalenzfreieste Beziehung überhaupt ist, die man zu einem nahen Menschen haben kann. In einem lebenslangen Prozess, vom vorgeburtlichen Stadium bis zum Tod, werden in einem natürlichen Wechsel von Intimität und Distanz und in einem ständigen Austausch von Geben und Nehmen offenbar die gegenläufigen Tendenzen von Liebe und Hass zusammengeschmolzen und in einer Weise neutralisiert, dass sie den höchsten Grad an Freiheit in einer Bindung erlauben. Das verleiht der Geschwisterliebe ihre Unabhängigkeit in der Abhängigkeit, das erspart ihr Angst und Scham bei der Annahme von Hilfe, das erleichtert ihr die Versöhnung, das erklärt ihre Kontinuität – über den Tod hinaus.
Nach diesen Überlegungen lässt sich die Aussage von Kasten umdrehen und fragen, warum der Tod der Eltern oder einesKindes höher eingestuft wird als der eines Geschwisters. Die Antwort liegt nahe. Es ist die Ambivalenz von Liebe und Hass. Dabei ist die psychologisch gesicherte Tatsache zu berücksichtigen, dass die – meist unbewusste – Faszination durch den Tod eines anderen die lustvolle Aggression als Teil der menschlichen Konstitution widerspiegelt. Dort, wo die Ambivalenz besonders ausgeprägt ist, entspricht es der »traditionellen kulturellen Norm«, auf den Tod mit teilweise demonstrativem Schmerz und einer prunkvoll inszenierten Trauer zu reagieren. Es handelt sich dabei um Rituale, die neben dem Ausdruck der Liebe auch der magischen Abwehr der destruktiven Gefühle dienen. Aus dem Ausbleiben starker Trauerreaktionen auf einen geringeren Verlustschmerz zu schließen, wie beim Tod von Geschwistern, wäre deshalb ein Irrtum.
Es gibt in diesem Zusammenhang einen häufigen Befund, der bei realistischer Deutung ein überraschendes Licht auf die Ambivalenz von Liebe und Hass wirft. Es ist bekannt, dass in höherem Alter nach dem Tod eines Ehegatten der Partner oft innerhalb einer Jahresfrist stirbt. In der Regel wird darin ein Ausdruck besonderer Liebe, einer engen Beziehung und eines entsprechend intensiven Verlustschmerzes gesehen. Die Ambivalenz legt jedoch eine andere Deutung nahe. Nach ihr könnte der zweite Partner auch deswegen so bald sterben, weil die vorher in der Beziehung offen oder latent gelebte Aggression nun nicht mehr ausgedrückt werden kann und sich in Selbstdestruktion umwandelt. Das meinte Freud, als er von der Depression als einer Form pathologischer Trauer sprach. Dabei wird das verlorene Objekt nicht aufgegeben, sondern nach innen verlagert, wobei der jetzt innerlich fortgesetzte Kampf sich gegen das eigene Ich richtet. 35 Ein ähnlicher Befund ist mir bei älteren Geschwistern noch nie begegnet und aus der Literatur auch nicht bekannt.
Nach allen bisherigen Überlegungen ist diese Erfahrung nicht überraschend. Während des gesamten Lebens hat das eigeneIch innere Bilder von dem Geschwister in sich aufgenommen, sogenannte Objektrepräsentanzen, von denen wir früher sahen, dass sie eine wichtige Funktion beim Aufbau und für die Stabilität des eigenen Selbst haben. Nach dem Tod wird das Geschwister nicht aufgegeben, sondern in das eigene Innere aufgenommen. Es lebt in uns weiter, wie dies bei allen nahen Personen der Fall ist, die man verliert. Den sichersten Beleg für diese Tatsache bildet die Welt der Träume, in der nahe Personen besonders nach ihrem Tod
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