Geschwister - Liebe und Rivalitaet
meisten Menschen in der heutigen Zeit noch eine Zwischenphase der Lebensvielfalt und eines neuen Aufbruchs an, von denen das letzte Kapitel handelte. Erst nach ihrem Abschluss wendet sich der Blick, der vorher noch stark auf die Zukunft gerichtet war, endgültig auf die weite Landschaft der Vergangenheit. Wie schon im höheren Alter erscheint jetzt die Sinnfrage des Lebens noch einmal in einem anderen Licht.
Alle diese Erfahrungen fließen organisch in die Wiederannäherungsphase der Geschwister ein. Erinnerungen an die farbigeWelt der Kindheit, an Freude, Unbeschwertheit, Lachen, Spiel, Vertrautheit und Nähe, und dann die gemeinsame Jugend mit ihren in die Zukunft hinein entworfenen Abenteuern, Plänen und Hoffnungen – welch ein Reichtum an Leben gegen die relativ eingeschränkte Realität des späten Erwachsenenalters. Mit diesen Rückerinnerungen nähern sich die Geschwister wieder an. Sie wissen, dass dieser Reichtum sie verbindet und zur Kraftquelle für die Unterstützung wird, die sie jetzt zunehmend brauchen. Aber nur im Notfall. Denn aus der Geschwisterforschung ist bekannt, dass in dieser Lebensperiode weniger die konkrete Hilfe selbst als vielmehr die Gewissheit, mit der Unterstützung der Geschwister rechnen zu können, einen wesentlich stützenden und schützenden Faktor darstellt.
Wenn man die Summe der Abschiede und Verluste im späten Erwachsenenalter und die mit ihnen verbundene Einsamkeit bedenkt, so könnte man den Eindruck gewinnen, als sei die Geschwisterliebe zu keinem Zeitpunkt des Lebens existenziell notwendiger gewesen. Erst im Alter scheint so recht zu gelten und wird bewusst, was Ludwig Tieck in seinem Roman »Franz Sternbalds Wanderungen« einen Jüngling sagen lässt: »Wenn ich über irgend etwas in der Welt traurig werden könnte, so wäre es darüber, dass ich nie eine Schwester, einen Bruder gekannt habe. Mir ist das Glück versagt, in die Welt zu treten und Geschwister anzutreffen, die gleich dem Herzen am nächsten zugehören … darum kann es wohl sein, dass ich keinen Menschen auf die wahre Art zu lieben verstehe, denn durch Geschwister lernen wir die Liebe …« 33
Die Aussage greift weit über den hier thematisierten Zusammenhang hinaus. Aber sie lässt begreifen, warum die Rückwendung des Alters in die Kindheit, die den Kreislauf des Lebendigen schließt, mit größerer Einsamkeit und »Traurigkeit« verbunden ist, wenn sie zusätzlich zu allen Verlusten noch die Erfahrung der frühen und späten Geschwisterliebe entbehrenmuss. Die Versöhnung mit dem Leben, die Auflösung seiner Widersprüche im Alter dürfte leichter fallen, wenn man bei der Rückkehr an den Ursprung von jemandem begleitet wird, der den langen Weg, ob in der Intimität oder Distanz, miterfahren und mitgestaltet hat und mit dem man die Trauerarbeit über den anstehenden Verlust des eigenen Lebens gemeinsam bewältigen kann.
Die längste Beziehung des Lebens. Irgendwann endet auch sie. Der Tod eines Geschwisters im Alter unterbricht die Geschwisterliebe für immer und bedeutet Schmerz und Trauer. Und dennoch scheint sich dieser Abschied vom Verlust anderer naher Menschen zu unterscheiden. Kasten spricht von der »traditionellen kulturellen Norm, die das Ereignis Geschwistertod deutlich niedriger (auch in bezug auf die zu verrichtende Trauerarbeit) einstuft als z. B. den Tod eines Elternteils oder eines Kindes«. 34
Stellt diese »traditionelle kulturelle Norm«, sollte sie denn bestehen, das hier entwickelte Konzept der Geschwisterliebe grundlegend in Frage? Oder gibt es eine Erklärung für den Unterschied, der die Einmaligkeit dieser Liebe in einem neuen Licht erscheinen lässt? Auf der Suche nach einer Antwort hat mir das Erlebnis mit einem Freund weitergeholfen. Er selbst, Pianist von Beruf, war 55 Jahre alt, als er die Nachricht vom unvorhergesehenen Tod seines drei Jahre älteren Bruders bekam. Dieser war während eines Segelturns an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben. Es war der Sport, der die beiden Brüder, zum Teil auf gemeinsamen langen Fahrten, in den letzten Jahren eng verbunden hatte – eine Wiederannäherung, die Zeiten von Distanz und leichten Disharmonien endgültig versöhnte. Der Schock war schrecklich und übertraf alles, was der Freund bisher an Schmerzen erlebt hatte. In Gesprächen noch Monate danach war deutlich zu spüren, dass dieser Tod ihn tiefer berührt hatte als der Tod seiner Eltern, um die er auch lange getrauerthatte. Diesmal schien die Trauer nicht
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