Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Geburtserlebnisses. Nach psychoanalytischer Auffassung stellt die Geburt eines Geschwisters regelhaft ein Trauma für das vorhandene Kind dar, weil dieses jetzt die bisher ungeteilte Liebe und Zuwendung der Mutter entbehren muss. Aus der Frustration seiner Bedürfnisse entstehen, so die Lehrmeinung, Neid und Hass, die mit dem Wunsch verbunden seien, das Geschwister zu beseitigen, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Solche zuerst von Freud formulierten »Todeswünsche« werden von ihm selbst allerdings relativiert; es seien eher »Verschwindewünsche«, weil in diesem Alter noch keine reale Vorstellung vom Tod existiere. In der späteren Literatur wird diese Relativierung übersehen, und so werden »Todeswunsch« und »Tötungsimpuls« zum Uranfang der Geschwisterbeziehung. Gegen diese ungeheuerliche Hypothese kann sich die Geschwisterliebe schwer behaupten.
Wie lässt sich der Sachverhalt aus einer unvoreingenommenen Perspektive betrachten? Eine empathische Mutter, die sich in die Bedürfnisse des erstgeborenen Kindes ebenso wie in die des Neugeborenen einfühlen kann, vermag nicht zu verhindern, dass bei dem älteren Geschwister Gefühle von Verlustangst und Getrenntsein entstehen, die mit der Teilung der mütterlichen Sorge verbunden sind. Diese Gefühle sind umso ausgeprägter, je geringer der Altersabstand ist. Sie sind auch deswegen schmerzlich, weil mit der Gefahr des neuerlichen Getrenntwerdens die Urerfahrung der ersten Trennung wiederholt wird – die Trennung von der Mutter bei der Geburt.
Da das neugeborene Geschwister diese Trennung verursacht hat und jetzt die bevorzugte körperliche Nähe zur Mutter genießt, muss der Verzicht zwangsläufig zu Gefühlen von Neid, Eifersucht und Wut führen. An dieser Nahtstelle entsteht die geschwisterliche Ambivalenz. Das Geschwister nur zu lieben wäre unnatürlich, da es einem Wichtiges geraubt hat. Das bedeutetjedoch nicht – und hier liegt eine wichtige Akzentverschiebung –, dass das Geburtsereignis zum Trauma werden muss. Als Trauma bezeichnen wir eine tiefer gehende seelische Verletzung, die das innere Gleichgewicht akut oder dauerhaft erschüttert. Die bisher beschriebenen Gefühle sind jedoch eine natürliche Reaktion auf normale und unvermeidbare Versagungen, wie sie mit jedem Leben verbunden sind. Wie frühere Ausführungen gezeigt haben, handelt es sich sogar um ein notwendiges Erlebnis für das ältere Geschwister, weil es erstens seinen eigenen Ablösungsprozess von der Mutter unterstützt und zweitens die soziale Dimension in seine Erfahrungswelt einführt: nicht mehr alleine zu sein und teilen zu müssen. Das Geburtserlebnis enthält also verschiedene Entwicklungsanreize, die das Bewusstsein über die eigene Person, über die eigene Rolle und die eigene Kraft ausdifferenzieren und stärken.
Unter welchen Bedingungen wird die Geburt eines Geschwisters zum Trauma? Die Vielzahl der Möglichkeiten lässt hier nur die Beschreibung einiger Beispiele zu. Das Erstgeborene gilt nach allgemeiner Auffassung als das »besonders« geliebte Kind. Der Begriff hat es in sich. Unter normalen Bedingungen wird das erste Kind von den Eltern mit freudiger Aufregung erwartet. Großeltern, Verwandte und Freunde begleiten »die anderen Umstände« mit großer Teilnahme. Die Geburt verändert das Leben der Eltern wie kaum ein Ereignis davor. Wohnung, Haushalt, Beruf, Freizeit und Finanzen als die wesentlichen Organisatoren des Alltags müssen grundlegend umgestellt werden. Das in vielen Kulturen noch heute bestehende Erstgeburtsrecht unterstreicht die bevorzugte Stellung des ersten Kindes in der Geschwisterreihe. Sie entspricht dem Stolz, mit dem Eltern dieses Kind feiern und der Welt präsentieren. Es ist der Beweis ihrer Potenz, ihrer Fähigkeit, neues Leben zu schaffen. Dabei ist es nicht übertrieben zu sagen, dass durch das Kind das Selbstgefühl der Eltern unbewusst zueiner gottähnlichen Grandiosität und Allmacht gesteigert werden kann.
Die narzisstische Aufwertung erleben Mütter in der Regel intensiver als Väter; schließlich haben sie das Kind ausgetragen, es geboren, sie stillen es, sorgen und kümmern sich und sind in den ersten Lebensjahren entscheidend für seine Entwicklung verantwortlich. In der Symbiose von Mutter und Kind verschmilzt die narzisstische Liebe der beiden zur paradiesischen Einheit.
Man muss die Situation des Erstgeborenen in seiner Besonderheit so pointiert beschreiben, um ermessen zu können, mit welcher Hypothek
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