Geschwister - Liebe und Rivalitaet
wieder lebendig werden und das eigene Erleben mitgestalten. In der Geschwisterliebe, die sich durch eine geringe Ambivalenz auszeichnet, entsteht also innerlich ein überwiegend »gutes« Objekt, das zur eigenen Stabilität, zum Selbst-Vertrauen und zur weiteren Reifung beiträgt. Das unterscheidet das nach dem Tod verinnerlichte Geschwister von dem beschriebenen Ehepartner. Es muss innerlich nicht weiterverfolgt und bekämpft werden, sondern leiht einem seine Kraft und macht einen stärker. Man wird fähig, die späte Sonate zu spielen.
Aber vorher müssen Schmerz und Trauer bewältigt werden. Sie verändern die Person tiefgreifender, weil der Verlust einer vergleichsweise ambivalenzfrei geliebten Person schwerer wiegt: Es fehlt die Beimengung der Aggression, die sie abwertet, um den Verlust erträglicher zu machen. Außerdem ist der Verlust eines Geschwisters unersetzbar. Ein Ehepartner, Freunde, ja sogar Kinder lassen sich ersetzen. Oft wird die Beziehung zu ihnen aufgegeben, weil die wechselseitige oder auch einseitige Ambivalenz ein zerstörerisches Ausmaß angenommen hat. Dagegen zeichnet sich die Geschwisterliebe durch ihre Kontinuität aus, die sich im Wesentlichen dem geringen Grad der Ambivalenz verdankt. Deswegen reicht sie über den Tod hinaus. Was früher äußerer Dialog war, verwandelt sich in einen inneren. Das verinnerlichte Geschwister begleitet einen weiter, beschützt einen und hält die Erinnerung anden Lebensstrom wach, den man gemeinsam durchschwommen hat – von der Quelle bis zur Mündung, mal näher beieinander, mal weiter entfernt, aber immer in dem sicheren Gefühl, dass man zusammengehört.
Ina Seidel hat in ihrem sehr berührendem Gedicht »Dies und Das« * für diese Einheit der Geschwisterliebe, die vom vorgeburtlichen Stadium über den Tod hinausreicht und in der sich der Kreislauf des Lebens erfüllt, das Bild des »Balles« gefunden, ein Symbol des »alles« Umgreifenden, Runden, in Harmonie Vollendeten, das der Bruder im Tod an die Schwester weiterreicht.
Dies und Das
Du und ich, wir hatten dies und das:
Blanke Kiesel, Muscheln, Vogelnester,
Kugeln auch aus bunt gestriemtem Glas,
Und du warst der Bruder, ich die Schwester,
Und wir stritten uns um dies und das:
Um Kastanien, Kolben aus dem Röhricht,
Und wir wurden groß, und es schien töricht,
Es erschien uns alles als ein Spiel,
Als ein Nichts erschien uns dies und das.
Heute nun, da du vor mir des Balles
Müde wardst, und er in meiner Hand
Liegen blieb wie ein vergessnes Pfand,
Weiß ich: dies und das, ach es war viel!
Lieber Bruder, dies und das war alles.
Teil B:
Die Geschwisterrivalität
11. Über den Ursprung destruktiver Gefühle in der Kindheit
Die Darstellung der Geschwisterliebe im ersten Teil des Buches bediente sich zweier Kunstgriffe. Der eine wurde bereits in der Einleitung genannt: die Trennung der positiven von den negativen Gefühlen. Der zweite bestand darin, außer in Kapitel drei die Geschwister als weitgehend selbstständige und von der Umwelt isolierte Gruppe zu betrachten, die ihre Gefühle und ihre Beziehung untereinander ungestört von äußeren Einflüssen entwickeln kann. Beide Kunstgriffe werden natürlich der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht, weil Geschwister von Geburt an Mitglieder einer größeren Gemeinschaft sind. Das Vorgehen erschien aber sinnvoll, um die vielschichtigen Facetten der Geschwisterliebe und die positiven Gefühlsanteile in jeder Geschwisterbeziehung überzeugender nachweisen zu können, als es die verbreitete Auffassung mit ihrer einseitigen Betonung von Geschwisterproblemen nahelegt.
Dennoch ist nicht zu leugnen, dass die Entwicklung einer positiven Geschwisterbeziehung durch zahlreiche negative Einflüsse von außen behindert werden kann. Ihre Kenntnis ist notwendig, wenn man die Verknotungen lösen will, die die lebendige Entfaltung der Geschwisterliebe immer wieder blockieren. Von diesen Verknotungen und der Möglichkeit ihrer Lösung handelt der zweite Teil des Buches. Dabei lässt es sich nicht ganz vermeiden, den Leser zeitweilig durch etwas unwegsames Gelände zu führen. Bei aller Vereinfachung erfordert die Komplexität menschlicher Beziehung und Konflikte ein gewisses Maß an theoretischem Verständnis, wenn auch die praktischen Wege zur Hilfe genutzt werden sollen.
Meine in einigen Punkten abweichende Einschätzung von Geschwisterkonflikten gegenüber gängigen Lehrmeinungenbeginnt bereits bei der Bewertung des
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