Geschwister - Liebe und Rivalitaet
entwickeln. Hier sind es also die Nachgeborenen, die auf die einseitige Bevorzugung der älteren Geschwister mit heftigen destruktiven Gefühlen reagieren, weil ihre Geburt von Beginn an in deren Schatten stand – eine traumatische Erfahrung, die ein Leben dauerhaft begleiten kann.
Wie die verschiedenen Variationen des Geburtserlebnisses eines Geschwisters zeigen, wird nicht die Geburt an sich zum Trauma, wie die Psychoanalyse lehrt, und nicht die Reihenfolge in der Geschwisterreihe ist entscheidend, wie die Forschung über die Geschwisterposition meint; viel entscheidender ist die Qualität der Bindung der Eltern zu den einzelnen Kindern. Mit der bisherigen Beschreibung gestörter Bindungsmusterist zugleich der Kern angedeutet, um den herum sich Geschwisterprobleme aufbauen: Es ist der Unterschied in den emotionalen Beziehungen zwischen den Eltern und ihren einzelnen Kindern. Die Erwartung, die alle Eltern an sich haben und die ihnen als Ideal vorschwebt, ist die Gleichbehandlung ihrer Kinder. So lebt sicher die überwiegende Zahl von ihnen in der Überzeugung, ihre Kinder gleich zu lieben und gleich zu behandeln. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber diese Überzeugung als Illusion und das vorgeschriebene Ideal als eine Fiktion. Es gibt keine Gleichheit in den Eltern-Kind-Beziehungen. Es gibt nur den Unterschied. Die Gründe hierfür lassen sich mit wenigen Andeutungen umreißen.
Jedes Kind trifft bei der Geburt auf eine veränderte Familienkonstellation. Ob es das erste, zweite oder dritte Kind ist, stellt nur einen Faktor dar. Wichtiger ist, dass sich die emotionale Beziehung der Eltern zueinander, ihre persönliche Reife, ihre Auffassungen über Erziehungsziele, ihre seelische und körperliche Verfassung und nicht zuletzt ihre soziale Situation in einem ständigen Wandel befinden. Diese Erfahrungen spiegeln sich in einem wechselnden Grad der gefühlsmäßigen Resonanz auf die Kinder wider. Diese hängt außerdem entscheidend von den Kindern selbst ab. Geschlecht, Alter, Intelligenz, Begabung, Aussehen, Charakter, Temperament, Sensibilität und soziale Anpassungsfähigkeit sind die wichtigsten Kriterien, in denen sich die Geschwister unterscheiden. Alle diese Faktoren können mit den entsprechenden Anlagen der Eltern harmonieren, viele weichen jedoch mehr oder weniger ausgeprägt von ihnen ab. Die Kombination der zahlreichen Möglichkeiten bedingt eine unterschiedliche Bereitschaft bei den Eltern, ihre Kinder innerlich voll anzunehmen oder ihnen – bewusst oder unbewusst – distanziert, unsicher, ambivalent oder in ausgeprägten Fällen sogar ablehnend gegenüberzustehen. Dabei stellen sie ständig Vergleiche zu Gunsten eines und zuUngunsten des anderen Geschwisters an, erwählen eins als unerreichbares Vorbild oder verteilen in anderer Weise Zuwendung und Desinteresse unterschiedlich zwischen den Geschwistern.
Als bedeutender Grund für ein unterschiedliches Bindungsverhalten kommt die prägende Erfahrung der Eltern mit eigenen Geschwistern hinzu. Eltern entwickeln zu ihren Kindern unbewusste Geschwisterübertragungen, bei denen frühere Erlebnisse und Gefühlseinstellungen zu einem Geschwister auf das eigene Kind »übertragen« werden. So kann zum Beispiel ein Sohn bei seiner Mutter oder seinem Vater die Rolle des früher geliebten oder gehassten Bruders einnehmen oder eine Tochter von ihnen zum Schwesternersatz werden.
In diesem Zusammenhang sei hier erwähnt, dass solche Übertragungsprozesse auch umgekehrt zwischen den Geschwistern ablaufen können. Besonders bei größeren Altersunterschieden kommt es dabei vom Bruder zur Schwester zu einer Mutterübertragung oder von der Schwester auf den Bruder zu einer entsprechenden Vaterübertragung. Wie konflikthaft solche Übertragungen im Einzelfall sind, hängt von der ursprünglichen Beziehung zu den Eltern ab.
Als letztes Beispiel für unterschiedliche Gefühlseinstellungen mit entsprechend abweichenden Erziehungshaltungen der Eltern wähle ich das aus der Familientherapie bekannte Phänomen der Delegation. Bei ihr werden unerfüllte Wünsche, Aufgaben und Ziele meist unbewusst an die Kinder delegiert, in der Erwartung, dass diese sie anstelle der Eltern verwirklichen. Dabei wird jedes Kind mit unterschiedlichen Fantasien der Eltern belegt und seine Erziehung entsprechend gelenkt. Oft werden in diesem Zusammenhang auch eigene negative Anteile auf das Kind projiziert, das sich dazu am besten anbietet, und der eigene böse Schatten im Kind verfolgt.
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