Geschwister - Liebe und Rivalitaet
dieses Kind von Geburt an belastet ist. Das erste Kind erfährt im Vergleich zu seinen Geschwistern ein Übermaß an Aufmerksamkeit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Sorge und Liebe, durch die sein Narzissmus ungemein stimuliert wird. Dieser Umstand ist hauptsächlich verantwortlich dafür, dass das Erstgeborene schon unter normalen Bedingungen in eine Entwicklungskrise gerät, wenn durch die Geburt eines Geschwisters die Intensität der narzisstischen Zufuhr plötzlich nachlässt.
Zum Trauma wird die Krise aber erst, wenn die Mutter selbst unter einer übermäßigen narzisstischen Bedürftigkeit leidet, die durch das Kind befriedigt werden soll. Dabei fällt dem Kind die Aufgabe zu, das reduzierte Selbstwertgefühl der Mutter zu stabilisieren und ihre narzisstischen Lücken auszufüllen. In diesem Fall ist die Symbiose besonders eng und dauerhaft, wodurch die Mutter unbewusst die notwendige Ablösung des Kindes verhindert. Für ein solchermaßen abhängig gehaltenes und fixiertes Kind wird die Geburt eines Geschwisters zum Trauma, weil es jetzt völlig unvorbereitet und von einem Tag zum anderen von der Mutter »fallen gelassen« wird.
Es ist leider eine häufige psychotherapeutische Erfahrung, dass manche Mütter in ihrer eigenen Unselbstständigkeit ihreKinder nur so lange lieben und ertragen können, solange sie in der Symbiose verharren. Wenn sich diese Kinder eines Tages daraus lösen und ihre Selbstständigkeit erkämpfen, kommt es bei den Müttern nicht selten zum Ausbruch der latenten Neurose oder einer psychosomatischen Erkrankung. Da der Ablösungsprozess eines Kindes zeitlich oft mit der Geburt eines Geschwisters zusammenfällt, bleibt der Mutter als weitere Möglichkeit, ihre narzisstischen Bedürfnisse nun voll auf den neuen Säugling zu übertragen. Dadurch bekommt die Ablösung des älteren, übermäßig fixierten Kindes etwas zusätzlich Gewalttätiges. In diesen Fällen lässt sich leicht vorhersehen, dass das ältere Geschwister mit bleibendem Neid und mit Hass reagiert, wenn die Liebe der Mutter jetzt fast ausschließlich dem zweiten Kind gilt.
Die »besondere« Rolle des ersten Kindes kann noch aus ganz anderen Gründen problematisch sein und eine Erklärung dafür liefern, warum die Geburt eines Geschwisters zum Trauma wird. Eine nicht seltene Variante einer pathologischen Bindungsstruktur ist die offene oder verdeckte Ablehnung des ersten Kindes durch die Mutter. Die Ursachen dafür sind vielfältig: das Kind ist nicht ehelich oder, bezogen auf die Lebensplanung, zu früh geboren; es stammt aus einer scheiternden Ehe; es hat nicht das gewünschte Geschlecht; die Mutter fühlt sich noch nicht reif für die Verantwortung; der Vater oder die Mutter selbst oder beide wollten nie ein Kind – um nur wenige Beispiele zu nennen. In vielen Fällen ist dann erst das zweite das »richtige« Kind. Die Beziehung der Partner und die sozialen Verhältnisse haben sich inzwischen stabilisiert, und das Kind genießt nun die ungebrochene Liebe der Mutter, die sie ihrem ersten Kind noch nicht geben konnte. Oft ist die Zuwendung zum zweiten Kind umso intensiver, je mehr die Mutter wiedergutmachen möchte, was sie beim ersten versäumt hat. In solchen Konstellationen wird die Geburt des Geschwisterszum Trauma, weil das Erstgeborene aus verständlichen Gründen die Heftigkeit seiner negativen Gefühle nicht mehr verarbeiten kann.
Es ist auffallend, wie ausschließlich sich die Wissenschaft mit dem Trauma beschäftigt hat, das das ältere Kind durch die Geburt eines Geschwisters erleidet, während in der Realität ebenso häufig die umgekehrte Situation besteht: Nicht das ältere erleidet das Trauma, sondern das nachfolgende Kind durch die Anwesenheit bereits eines oder gar mehrerer Geschwister. Bei vielen Eltern ist ihr Kinderwunsch, ihre Verantwortungsbereitschaft, ihre psychische und soziale Belastbarkeit und nicht zuletzt ihre Liebesfähigkeit mit einem oder zwei Kindern voll ausgeschöpft. Ein zweites oder drittes Kind, ob geplant oder ungeplant, stellt die Eltern, trotz bester Vorsätze, vor die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die Eltern konzentrieren dann ihre Liebe weiterhin auf das erste Kind, während, im Extremfall, das zweite nur mit dem Notwendigsten versorgt wird. Fälle von ausgesprochener Vernachlässigung haben hierin oft ihre Ursache. In dieser Situation hat das ältere Kind keinen Anlass für Neid und Eifersucht; im Gegenteil: Es kann sogar sehr früh Gefühle mitleidender Fürsorglichkeit für das Baby
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