Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Ausstoßungstendenzen. Bei Zweiäuglein war es der gekränkte Narzissmus der Mutter. Aschenputtel wird ausgestoßen, weil sie die einzige leibliche Tochter des Vaters ist und eine besondere Anhänglichkeit zur verstorbenen Mutter bewahrt. Die Stiefmutter wird dadurch ständig an die glückliche Vergangenheit ihres Mannes und an seine idealisierte erste Frau erinnert und versucht, aus Eifersucht und Neid das Produkt dieser Liebe zu erniedrigen und zu zerstören. Solche Ausstoßungstendenzen findet man ebenso bei leiblichen Müttern und Vätern in äußerlich intakten Familien. Auch in diesen Fällen liegt der Grund häufig darin, dass das betroffene Kind konfliktbesetzte Erinnerungen wachhält und ahnungslos zum mahnenden Gewissen der Familie oder eines Elternteils wird. Oft sind es auch nur enttäuschte Erwartungen, die Eltern in einGeschwister gesetzt haben. Am häufigsten geht es dabei um nicht erfüllte Leistungen.
Die besondere Tragik für die Geschwisterbeziehung im Rahmen einer solchen Familiendynamik liegt in dem Bündnis, das die Geschwister mit den Eltern eingehen, um eigene Ausstoßung und Liebesverlust zu vermeiden. Die beiden zitierten Märchen sind eindrucksvolle Belege dafür, wie bei diesem Bündnis der ursprüngliche Konflikt zwischen der Mutter und Zweiäuglein beziehungsweise Aschenputtel im Laufe der Familiengeschichte immer stärker auf die Geschwisterebene verlagert wird. Während die Mütter im Hintergrund die heimlichen Fäden der Intrige spinnen, sind es jetzt die bösen Schwestern, die in Stellvertretung ihrer Mütter die Verfolgung und Ausstoßung des stigmatisierten Geschwisters konkret vorantreiben. Dadurch ist für das verfolgte Kind die Schuld der Eltern nicht mehr erkennbar, während die Geschwister in die Rolle der ursächlichen Bösewichter geraten.
Dieser subtile Missbrauch durch die Eltern, bei dem die Geschwister gegeneinander ausgespielt werden, während sie selbst unerkannt im Hintergrund bleiben, bildet das eigentlich diabolische Ferment, das die destruktive Geschwisterrivalität zum Kochen bringt. Die Gemeinheit, Bosheit, Hinterlist, der Neid, die Beleidigung und Verachtung, mit denen Zweiäuglein und Aschenputtel von ihren Schwestern behandelt und ausgebeutet werden, spiegeln in der farbigen Schilderung der Märchen die Spirale der negativen Gefühle wider, die besonders dann hochgeschraubt wird, wenn sie von den Eltern bewusst oder unbewusst in Gang gesetzt und unterstützt worden ist. Im Schutz und unter der Protektion der Mächtigen können die Schwachen selbst stark sein.
In den beiden Märchen schlagen die gedemütigten Schwestern nicht zurück wie sonst meist in der Realität, sondern sie erdulden ihr Leiden und kehren ihre Vergeltungswut nachinnen – sie werden depressiv. »Da setzte sich Zweiäuglein auf einen Rain und fing an zu weinen, und so zu weinen, dass zwei Bächlein aus seinen Augen herausflossen.« »Als Zweiäuglein das sah, ging es voller Trauer hinaus, setzte sich auf einen Feldrain und weinte seine bitteren Tränen.« Auch Aschenputtel muss viel weinen.
Die Trauer über den Verlust der geschwisterlichen Liebe. Viele seelische und psychosomatische Beschwerden sowohl im Kindesalter als auch im gesamten weiteren Lebensverlauf sind nicht nur die Folge unverarbeiteter Konflikte mit den Eltern; sie können auch allein einer gestörten Geschwisterbeziehung entstammen. Dort, wo der Konflikt nicht im offenen Streit ausgetragen werden kann, werden die destruktiven Gefühle verdrängt und führen zur Erkrankung.
Das Schicksal von Zweiäuglein und Aschenputtel endet aber nicht in der Depression, sondern, wie wir es vom Märchen erwarten, in der Erlösung durch den Prinzen. Handeln deswegen die Geschichten nur nach der pädagogischen Devise: »Das Gute siegt, das Böse muss untergehen«? Die Weisheit der Märchen reicht weiter. Sie führen das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit ein, und dies ist mehr als Pädagogik. Es befriedigt die in jedem Menschen tief verinnerlichte Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht. Alle bisher beschriebenen Mechanismen elterlicher Beeinflussung, die die Geschwisterbeziehung spalten, sind mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit verbunden. Sie verletzen den Gerechtigkeitssinn und sind für die Gefühle verantwortlich, mit denen sich das Individuum gegen sie aufbäumt: Enttäuschung, Kränkung, Wut und Rache. Gefühle, die im Zusammenhang mit Geschwisterkonflikten immer als die wichtigsten betont werden, wie Neid, Eifersucht und
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