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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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warum und durch welche elterlichen Einflüsse ein Kind zum Beispiel faul, böse oder unehrlich wird. Entgegen diesen Einsichten zeigt die Praxis, dass das Festhalten an dem Schwarz-Weiß-Schema zu den verbreitetsten Mechanismen gehört, die Menschen zur Regelung von Konflikten einsetzen. Die Spaltung in Gut und Böse erspart einem, Probleme zu differenzieren und nach entsprechend ausgleichenden Lösungen zu suchen. So werden wie im Märchen auch in der Realität die Rollen klar verteilt: das dumme Kind, das kluge Kind, das hübsche und das hässliche, das trotzige und das artige. Diese von den Eltern vorgenommene Rollenverteilung ist die eindeutigste Form, wie Unterschiede zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit umgepolt werden. Eine solche Rollenverteilung belastet die Geschwisterbeziehung schwer, weil sie die Kinder dazu verführt, sich mit den Eltern zu identifizieren und die Rollenzuschreibung für die einzelnen Geschwister zu übernehmen. Das angeblich gute Kind hält das angeblich böse für tatsächlich böse, das angeblich dumme Kind das angeblich begabte für tatsächlich begabt. So werden Bündnisse zwischen Eltern und einzelnen Kindern gegen die anderen geschlossen, wodurch die Kluft zwischen den Geschwistern vertieft und die Eskalation destruktiver Gefühle in die Höhe getrieben wird. Besonders dramatisch sind die Folgen einer solchen Allianz in Familien, die zur inneren Regulierungihrer Konflikte ein Kind zum Sündenbock stempeln. Unter dem Druck der allseitigen Rollenzuschreibung entwickelt sich das stigmatisierte Kind tatsächlich zum Übeltäter, um das Unrecht zu rächen.
    Besonders kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, das Spiel zu durchschauen, zumal den meisten Eltern die Motive für ihr Verhalten nicht bewusst sind. Die Geschwister werden hier zu Mitspielern und Opfern zugleich, wobei sie im Drama unbewusster Rollenkonflikte schließlich auch ihre Geschwisterliebe auf dem Altar elterlicher Erziehungsmacht opfern.
    Eine solche traurige Geschichte erzählt das Grimm’sche Märchen »Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein«: »Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hieß die älteste Einäuglein, weil sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, und die mittelste Zweiäuglein, weil sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei Augen hatte   … Darum aber, dass Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern und die Mutter nicht leiden. Sie sprachen zu ihm: ›Du mit deinen zwei Augen bist nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns!‹ Sie stießen es herum und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrig ließen, und taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.«
    Die innerfamiliäre Verfolgung basiert hier offensichtlich auf einem pathologischen Narzissmus der Mutter, der nur durch das Außergewöhnliche und Besondere befriedigt werden kann und alles »Gewöhnliche« als persönliche Kränkung erlebt. Im Märchen wird offen gelassen, wie viele Augen die Mutter selbst hatte. In Übertragung alltäglicher Erfahrungen lässt sich jedoch vermuten, dass sie darunter litt, auch nur »gewöhnlich« zu sein, und sich von diesem Makel zu befreien versucht, indem sie die Tochter ausstößt. Die beiden außergewöhnlichenSchwestern gehen mit der Mutter eine Koalition ein, weil sie ihrer Besonderheit wegen geliebt und bestätigt werden. Diese Liebe könnten sie verlieren, wenn sie das Bündnis mit der Mutter aufkündigen und sich auf die Seite der stigmatisierten Schwester schlagen würden.
    Das Schicksal der verfolgten Schwester teilt Zweiäuglein mit »Aschenputtel«. Auch dieses Kinderseelen besonders rührende Märchen handelt von der Verschwörung zwischen einer Stiefmutter und ihren beiden Töchtern gegen die Tochter aus der ersten Ehe des Vaters. Nach dessen zweiter Heirat »ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an«. Auch Aschenputtel ist eine Ausgestoßene. Bei diesem Vorgang, der in der Familientherapie recht häufig beobachtet werden kann, kommt es nicht zur realen Ausstoßung, sondern zur inneren Isolierung in der Familie. Wie wir an späteren Stellen sehen werden, birgt dieser Mechanismus besonders in Patchworkfamilien besondere Gefahren. Das auf diese Weise ausgestoßene Kind wird quasi als nicht mehr zugehörig zur Familie betrachtet und gerät in die Rolle des Sündenbocks. Es gibt zahlreiche Gründe für elterliche

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