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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Regelverletzungen. Abel muss für seine Bevorzugung durch Gott-Vater mit dem Leben büßen, während Kain mit dem Schicksal versöhnt wird, vermutlich, weil er – so paradox es auch erscheinen mag – das Gerechtigkeitsprinzip verteidigt. Jakob unterläuft die Ungerechtigkeit seines Vaters Isaak, indem er in die Rolle des bevorzugten Esau schlüpft. Dieser erkennt offenbar die tiefere Bedeutung dieses Rollentausches und anerkennt das Prinzip der Gerechtigkeit; sonst wäre ihm die Versöhnung mit dem Bruder nicht so leichtgefallen. Auch Joseph zieht als Lieblingssohn großes Leiden auf sich. In der Versöhnungsszene mit den Brüdern bestätigt er sogar die Rechtmäßigkeit ihres Handelns und stellt damit die Forderung nach Gerechtigkeit innerhalb eines Systems über persönliche Interessen.
    Alle Brüder stehen für das Schicksal von Geschwistern, deren ursprüngliche Liebe durch störende individuelle, intrafamiliäre oder familiär bedingte sozialstrukturelle Einflüsse zerbricht. Ob es sich dabei um Bevorzugung oder Benachteiligung, um Ausstoßung und Delegation, um Geschwisterübertragung, Partnerersatz, Parentifizierung oder viele andere Mechanismen pathologischer Bindungen handelt, um die Benachteiligung und Ungleichheit in den persönlichen Anlagen oder schließlich um die Folgen sozialstruktureller Ungeborgenheit – immer scheint das Zerbrechen des Gerechtigkeitsgefüges der zentrale Grund zu sein, warum der Kern der Geschwisterliebe gespalten wird. Das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit, das der Überwindung der Dialektik von Recht und Unrecht entspricht, erfüllt sich unter der Bedingung, dass letztlich keiner von Leiden verschont bleibt und dass eine Versöhnung möglich wird. Nicht immer ist dies in der Realität der Fall. Wo Ungleichheit, Benachteiligung und Ungerechtigkeit die Geschwisterbeziehung dauerhaft bestimmen, wird auch die destruktive Rivalität nicht enden und eine Reparation der verletzten Geschwisterliebe nicht stattfinden.
    Die konkreten Anlässe für Geschwisterkonflikte zwischen Pubertät und frühem Erwachsenenalter sind so zahlreich und variabel wie die realen und psychologischen Aufgaben, die in dieser Zeit bewältigt werden müssen: Schulleistungen, Berufsausbildung, der Grad von erreichter Identität und Selbstbewusstsein, Anerkennung durch die soziale Gruppe, sexuelle Attraktivität und Chancen in Partnerbeziehungen, Berufserfolg, Einkommen, Heirat und Kinder. Diese Grundbedingungen des Existenzaufbaus bilden die Oberfläche der Matrize, in die bereits die tiefer liegenden und frühen Gründe für Affekte von Neid, Rivalität und Hass eingeprägt sind. Sie sind oft nicht Ursache, sondern nur Auslöser für solche destruktiven Gefühle, und dies umso mehr, je ausgeprägter die objektivenNachteile in einzelnen Bereichen sind und je weniger sie durch Vorteile in anderen ausgeglichen werden können.
    Mit diesen Hinweisen kommt der vierte und letzte Bereich ins Spiel, der zunehmend ab der Pubertät mit der Gefahr heftiger Rivalitätskämpfe verbunden ist – der Einfluss des außerfamiliären Umfeldes. Neben den drei bisher genannten – der Eltern-Kind-Beziehung, dem Unterschied in den individuellen Entwicklungsvoraussetzungen und dem Stellenwert sozialstruktureller Faktoren – berücksichtigt der vierte Bereich die Vielzahl der persönlichen und gesellschaftlichen Einflüsse außerhalb der Familie: Erzieher, Lehrer, Lehrmeister, Vorgesetzte, Kollegen, Freunde, Freundinnen, Institutionen, politische Ereignisse, gesellschaftliche Ideologien und vieles mehr. Die Soziologie unterscheidet zwischen dieser »sekundären Sozialisation« und der in der Familie erfolgenden »primären Sozialisation«. Mit ihr greifen fast unübersehbar viele und neue Bedingungen unkalkulierbar in die Charakterbildung und Lebensgeschichte jedes Einzelnen ein.
    Diese Modifikationen der Persönlichkeitsstruktur können nicht ohne Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehungen bleiben. Ob die Geschwister sich jetzt »fremd« werden oder sich weiterhin »verwandt« fühlen, hängt davon ab, wie ähnlich oder verschieden die sekundären Sozialisationserfahrungen sind. Aber zum Konflikt, zum Anlass für destruktive Gefühle werden Letztere erst, wenn sie einzelne Geschwister in besonderer Weise fördern, andere in ihrer Entwicklung behindern, sie mit Reichtum oder mit Armut ausstatten, mit einem großen Freundeskreis umgeben oder in die Isolation treiben und sie schließlich mit Glück oder Unglück in

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