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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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glanzvollen Fest begleitet; die Hochzeiten der beiden anderen Mädchen aber fanden in aller Stille statt, wie es dem niedrigen Rang ihrer Männer gebührte.« Aus ihrer Schönheit und Klugheit zieht die jüngste Schwester gleich mehrere Vorteile: Sie bekommt den begehrtesten Mann, erreicht dadurch einen hohen Sozialstatus, der mit Reichtum, Luxus und Bewunderung durch das weitere soziale Umfeld verbunden ist (das Volk liebt sie), lässt sich »Ehrerbietung« ihrer älteren Schwestern gerne gefallen, und, als wenn das alles noch nicht reichte, bringt sie schon bald einen »wunderlieben Knaben« zur Welt. Damit ist ihr Glück auf die Spitze getrieben und hat die Ungerechtigkeit grenzenlos gemacht. Nicht zufällig, wie wir aus früheren Überlegungen wissen, kennt auch der Neid der benachteiligten Schwestern in dem Moment keine Grenzen mehr, als das Kind geboren wird. An ihm lassen sie ihre Rache aus, weil sie damit die Schwester am tiefsten verletzen können. Als Hebammen in Dienst genommen, setzen sie den Knaben aus und legen der Schwester stattdessen »einen jungen toten Hund ins Bett«. Ebenso verfahren sie beim zweiten und dritten Kind, das sie jeweils durch »eine tote Katze« und durch »eine tote Maus« ersetzen. Natürlich hat der Sultan jetzt die Faxen dicke, verstößt die Frau als »Ungeheuer«, lässt sie einmauern und vom Volk bespucken. Damit feiert die Rache der Schwestern ihren höchsten Triumph. Sie »hatten es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, nicht eher zu ruhen, als bis sie ihre jüngste Schwester vernichtet sehen würden«.
    Der Sturz aus der Höhe der Allmacht in die tiefste Demütigung und Verelendung zeigt auch hier wieder die Dialektik vonRecht und Unrecht am Werk. Die in diesem Fall von außen in das Geschwistersystem einbrechende Ungerechtigkeit hat die gleichen Folgen wie innerfamiliäre Benachteiligung. Die jüngste Schwester wird durch die übermäßige Stimulierung ihres Narzissmus durch Außenkräfte zum Opfer ihrer eigenen Hybris. Indem sie sich dazu verführen lässt, die Sozialschranken ihres Familiensystems zu durchbrechen und etwas Besonderes zu werden, verletzt sie den Gerechtigkeitssinn ihrer Schwestern.
    Das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit durchzieht das Märchen auch in seinem weiteren Verlauf. Die ausgesetzten Kinder erkennen nach vielen Jahren ihre wahre Identität und befreien die Mutter aus ihrem Gefängnis; durch ihr langes Leiden ist ihre Schuld gesühnt. Die neidischen Schwestern werden mit dem Tod bestraft.
    Wenn man im Alltag den Verlauf von Geschwisterbeziehungen verfolgt oder sie im Rahmen psychoanalytischer Behandlung in einer tieferen Schicht aufhellt, kann man die Gesetze von Schuld und Sühne, von Versöhnung und dem alles umfassenden Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit mit großer Regelmäßigkeit wiederfinden. Ungleichheit und Ungerechtigkeit, so sahen wir, lassen sich nicht abschaffen. Und so mag es vielen Menschen bei oberflächlicher Betrachtung scheinen, dass sie vom Leben benachteiligt worden sind. Im Vergleich mit den eigenen Geschwistern wiegt eine solche Benachteiligung aus den ausführlich erörterten Gründen schwer. Erst wenn man die Perspektive umdreht, können sich die offensichtlichen Vorzüge der Geschwister als von schweren Konflikten belastet erweisen, während die eigenen als Nachteil erlebten Lebensvoraussetzungen auch in ihren positiven Aspekten sichtbar werden. Schönheit, Intelligenz und Reichtum als die von vielen Menschen als höchste Güter ersehnten Vorteile sind keineswegs Garanten des Glücks; oft sind sie imGegenteil mit schwerem Leiden verbunden. Das Maß der Dinge liegt in einem selbst. So muss auch ein mittleres oder geringeres Maß kein Unglück sein, wenn man es nicht dazu macht, sondern kann Frieden bedeuten mit sich und den anderen und die Chancen der Liebe erhöhen.

13.   Geschwisterkonflikte im mittleren und späten Lebensalter
    Der Einfluss gesellschaftlicher Kräfte auf die Gestaltung der Geschwisterbeziehung und ihre Konflikte bekommt im mittleren und späten Erwachsenenalter noch einmal ein besonderes Gewicht. Bis zu dieser Zeit hat das Leben aller Geschwister eine relativ festgelegte Struktur angenommen, die der Ausschöpfung ihrer inneren und äußeren Möglichkeiten in Abhängigkeit von der Resonanz ihres jeweiligen sozialen Umfeldes entspricht. Es ist die Zeit, in der, wie es die Familienforschung nennt, die »Aufstellung von Bilanzen« eine wichtige Bedeutung bekommt. Folgende Fragen werden dabei von

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