Geschwister - Liebe und Rivalitaet
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Wir sehen, auch der vierte Einflussbereich auf die Geschwisterbeziehung steht unter der Dialektik von Recht und Unrecht. Dass alle Geschwister im Rahmen der sekundären Sozialisation die gleichen und gerechten Entwicklungschancenbekommen, hängt nur teilweise von ihnen selbst ab. Gesellschaftliche Kräfte und ihre jeweiligen Repräsentanten haben einen nicht zu unterschätzenden Machteinfluss auf ihr Schicksal. Wie die tägliche Erfahrung zeigt, kommt es dabei nicht selten zu einer von den Geschwistern selbst nicht verschuldeten Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die die daraus abgeleitete Geschwisterrivalität leicht erklären.
Ich möchte diesen Zusammenhang abschließend an einem Märchen verdeutlichen, bei dem ein Eingriff von außen die Geschwisterbeziehung destruktiv verändert und das den vierten Einflussbereich, den der sekundären Sozialisation, auf einer symbolischen Ebene beleuchtet. Wir erinnern uns, dass in den bisher zitierten Märchen die primäre Sozialisation, das heißt die innerfamiliäre Beziehungsstruktur, ob in ihrer positiven oder negativen Form, im Vordergrund stand.
Zu den Hauptpersonen der vielschichtigen Erzählung von Scheherezade »Die neidischen Schwestern« aus »1001 Nacht« zählen drei arme Schwestern, die eines Abends »fröhlich miteinander plauderten« und sich ihren geheimsten Wunsch erzählten. Die Älteste wünscht sich den Hofbäcker des Sultans zum Mann und die Mittlere seinen Oberkoch. Die Jüngste schließlich, »die ein wunderschönes Mädchen und auch weit klüger als ihre Schwestern war«, übertrumpft diese mit ihrer Fantasie, den Sultan selbst heiraten zu wollen und mit ihm einen Prinzen zu zeugen, dessen Schönheit und Lieblichkeit alles übertreffen sollte, was je unter der Sonne geboren wurde. Mit solchen unrealistischen Fantasien können die Schwestern in ihrer unbelasteten Geschwisterliebe unbekümmert und gefahrlos miteinander konkurrieren. Die Komposition des Märchens könnte man in die Frage kleiden: »Was geschieht, wenn sich die kindlichen Wünsche und die spielerische Konkurrenz in der erwachsenen Realität erfüllen?« Tatsächlich hat der junge Sultan, wie sich mancher Leser erinnern wird, das Mädchengeplauderbelauscht, sich natürlich in die schönste Tochter verliebt und deswegen allen drei Schwestern ihren Wunsch erfüllt. Durch diesen Eingriff von außen verwandelt sich plötzlich das Lustprinzip kindlicher Fantasietätigkeit in das Realitätsprinzip. Der Sultan repräsentiert die von außen in das Geschwistersystem einbrechenden Gesellschaftskräfte und zeigt, dass die sekundäre Sozialisation keineswegs nach gerechten Kriterien verfährt. Im vorliegenden Beispiel heißt das konkret: Schönheit und Klugheit werden besonders honoriert und gefördert, durchschnittliche Begabung muss sich mit dem Notwendigsten zufriedengeben.
Dieses Gesetz gilt rein theoretisch völlig unabhängig von den Vorerfahrungen, die in der Familie gemacht wurden. Aber die Realität ist grausamer. Sie zeigt, wie häufig sich familiäre und außerfamiliäre Erfahrungen wechselseitig ergänzen und die destruktive Gefühlsspirale zwischen den Geschwistern hochschrauben: Die Anerkennung und Liebe, die ein hübsches und intelligentes Kind in der Familie erfährt, setzt sich später in aller Regel im gesellschaftlichen Kontext fort. Dabei wirkt die außerfamiliäre Resonanz im Sinne einer narzisstischen Gratifikation auf die Familie zurück, wodurch die dortige Belohnung des Kindes noch einmal verstärkt wird. Umgekehrt ziehen Kinder, die sich durch nichts »Besonderes« auszeichnen, innerhalb der Familie weniger Zuwendung auf sich, was ihre außerfamiliären Erfolgschancen primär einschränkt. Sekundär bedingt dann die geringere Resonanz in der Außenwelt sowohl subjektive Gefühle von Durchschnittlichkeit und Versagen als auch objektiv eine Minderung von Erfolg, wodurch die familiäre Anerkennung weiter abnimmt. Durch solche Kreisläufe kann die Schere zwischen Beliebtheit, Anerkennung, Erfolg und Belohnung zwischen den Geschwistern immer weiter auseinanderklaffen und ihre dramatischen Folgen unausweichlich machen.
Geschwister als Schicksal. Chronisches Unrecht und chronische Benachteiligung erzeugen auf Dauer destruktive Gefühlsstrudel, in denen man schließlich selbst umkommen kann. Diese Zusammenhänge zeichnet das Märchen in realistischer Härte nach: »Die Vermählung der jüngsten Schwester mit dem Sultan Chosru Schah war von einem
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