Geschwister - Liebe und Rivalitaet
sah ihm bei der Arbeit zu und sagte nach einiger Zeit: »Ein gutes Gefühl, immer sofort zu sehen, was man mit den eigenen Händen gemacht hat.« »Ja, ist es auch«, bestätigte er in perfektem Berliner Dialekt, und nach langer Pause fragte er: »Worauf haben Sie sich denn spezialisiert?« »Ich bin Seelenklempner.« »Ach, herrje, da tun Sie mir aber Leid!« Mit einer großen Rohrzange verschraubte er gerade einen verwinkelten Anschluss. »Mein Bruder ist auch Arzt«, fügte er beiläufig hinzu, »aber’n richtiger.« Ich wurde neugierig: »Sie sind Installateur, Ihr Bruder Arzt, das findet man nicht häufig.« »Nein, aber bei uns klappt’s prima. Wenn meine Tochter Masern hat, kommt er, und wenn bei ihm der Wasserhahn tropft, muss ich hin.« »Aber wie kam’s dazu, dass Sie so unterschiedliche Berufe ergriffen haben?«, wollte ich wissen. »Mein Vater hat immer gesagt: ›Verstand habt ihr beide, aber der Toni hat zwei linke und der Micha – das bin ich – hat zwei rechte Hände. Seht zu, was ihr daraus macht.‹ Ich habe mit Kumpels immer an einem schrottreifen Motorrad rumgebastelt, während die Freunde meines Bruders lauter Leseratten waren. So kam’s dann auch. Alle seine Freunde haben studiert, meine sind was Ordentliches geworden, nämlich Handwerker.« »Und Sie haben ihn nie um seinen Beruf beneidet?« Der Mann lachte. »Nee, nie; ich hab meinen Betrieb und verdiene gut. Mein Bruder verdient vielleicht etwas mehr, aber glücklicher ist er deswegen auch nicht.«
Später habe ich mich gefragt, ob nicht meine letzte Frage Ausdruck eines typischen Klassenvorurteils war, wonach Menschen umso mehr zu beneiden sind, je weiter sie es in der sozialen Hierarchie gebracht haben. Aber beneiden, worum eigentlich? Ganz offensichtlich verfügte der Installateur über ein recht gesundes Selbstvertrauen, das in seiner Identität als Handwerker begründet lag. Vielleicht hatte er es deswegen nieals Kränkung erlebt, dass sein Bruder einer im Kollektivbewusstsein höheren sozialen Schicht angehörte. Damit könnte der Mann für einen nicht unerheblichen Teil der Angehörigen der mittleren Sozialschichten stehen, die nicht nur keinen Anlass zum Neid haben, sondern die im Gegenteil über ein stabileres Selbstwertgefühl zu verfügen scheinen als so mancher Angehöriger höherer Schichten. Viele Erfahrungen sprechen dafür, dass der Dauerstress von Erfolgsdenken, Konkurrenz, gesellschaftlichem Prestige, Macht und Reichtum zu den oberen Sozialschichten hin anwächst und die damit verbundenen Anstrengungen und Konflikte die Selbstwertregulation erheblich beeinträchtigen können.
Möglicherweise liefern diese Erfahrungen eine Teilerklärung für den Befund vieler wissenschaftlicher Untersuchungen, wonach der familiäre und geschwisterliche Zusammenhalt in den unteren und mittleren Sozialschichten größer ist als in den oberen. Dabei scheint der Grad der Entfremdung von sich selbst und dem sozialen Umfeld eine wesentliche Rolle zu spielen. Dieser Befund deckt sich mit Erfahrungen, nach denen Kinder aus intakten unteren und mittleren Sozialschichten, bei aller vergleichsweisen Härte der Erziehung, oftmals mehr an emotionaler Wärme und gefühlsmäßiger Spontaneität in den familiären Beziehungen erleben als Kinder aus höheren Schichten.
Vielleicht meinte das mein Klempner. Er konnte nicht neidisch sein auf seinen Bruder, weil er sehr deutlich den Preis sah, den dieser für seinen sozialen Aufstieg und Erfolg zahlte und durch den er »nicht glücklicher« war. Die Bilanz zwischen den Brüdern schien recht ausgeglichen zu sein, auch wenn der soziale Schichtunterschied ins Auge sprang.
Hier liegt der psychologische Gewinn bei der zwischenzeitlichen Aufstellung von Bilanzen. Gerade in Geschwisterbeziehungen spielen sie eine wichtige Rolle. Dabei können im Vergleicheinzelne Posten schlechter abschneiden – entscheidend ist, »was unter dem Strich« herauskommt. Die Summe ist wichtig, und sie ist mehr als die Einzelposten; diese lassen sich gegenseitig aufrechnen und kompensieren. Diese etwas mathematische Sprache, die die Familienforschung für solche Innenvorgänge gefunden hat, entspricht in der Realität oft sogar wörtlich der »Buchführung«, mit der Menschen im Kopf oder auf dem Papier ihr Leben bilanzieren. Sie ist ein normaler Vorgang im Rahmen der vielen Wege der Selbstreflexion, die der Selbstvergewisserung des Subjekts über seinen persönlichen und zwischenmenschlichen Wert dient.
In der Praxis führt die
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