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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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jedem Menschen immer wieder nach allen Seiten hin durchgespielt: Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Wie habe ich meine Möglichkeiten genutzt? Wie weit habe ich es beruflich gebracht? Worin steckte bisher der Sinn des Lebens, und wie möchte ich ihn in der Zukunft gestalten? Was ist aus meinen Kindern geworden? Was habe ich richtig gemacht, was habe ich an ihnen versäumt? Wie weit reicht mein Einfluss und meine Macht? Wie groß ist mein Besitz, und wie viel Sicherheit garantiert er mir und der Familie? Wie groß ist meine soziale Anerkennung und Beliebtheit? Welche Erfahrungen habeich mit Freundschaften gemacht? Was habe ich in meinem Leben auf menschlicher, fachlicher und politischer Ebene zum Positiven hin verändert? Wie glücklich ist mein Leben in Bezug auf Ehe und Partnerschaften? Liebe, was ist das überhaupt? Wie ist das Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern?
    Die Fragen umkreisen das eigene Selbstbild, die Selbsteinschätzung und den eigenen Selbstwert und sind gleichzeitig auf andere Personen und ein soziales Wertesystem hin orientiert. Spätestens im mittleren und späten Lebensalter übernimmt das gesellschaftliche Bezugssystem die Aufgaben, die vorher weitgehend von familiären Erwartungen ausgingen. Die Abweichungen sind in der Regel nur deswegen nicht besonders auffällig, da die Familie als Agentur gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse deren Codes weitgehend übernommen und an die Kinder vermittelt hat. So besteht noch heute eine durchschnittlich hohe soziale Schichtkonstanz zwischen Eltern- und Kindergeneration, bei der die Kinder später in verwandten Berufen arbeiten wie die Eltern. Aber diese Regel ist in einer von schnellen Veränderungen und hoher Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft brüchig geworden. Umso mehr wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Lebensverläufe von Geschwistern immer weiter auseinanderlaufen.
    Dieser Zusammenhang verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit, das Verständnis von Geschwisterbeziehungen und von Geschwisterkonflikten über den familiären Rahmen hinaus zu erweitern. Spätestens ab dem mittleren Erwachsenenalter haben die formenden Kräfte des gesellschaftlichen Umfeldes eine Eigendynamik entwickelt, die die ursprünglich familiär definierte Geschwistereinheit aufbrechen und neu organisieren kann. Dabei ist es oft schwer bis unmöglich, die einzelnen familiären und gesellschaftlichen Einflussfaktoren zu isolieren, die die Persönlichkeitsstruktur und den Lebensverlaufjedes Geschwisters bestimmt haben. Letztlich gilt auch hier das Prinzip einer engen Wechselseitigkeit familiärer und gesellschaftlicher Bedingungen. Die Fragen zur Lebensbilanz spiegeln diese Einheit historischer Erfahrungen wider. In ihnen findet der lebendige und lebenslange Wechselbezug zwischen dem eigenen Selbst und seinem sozialen Umfeld seinen Niederschlag.
    Ich halte diese Erweiterung der Perspektive für dringend notwendig, weil sie Geschwistern die Möglichkeit gibt, den Vergleich ihrer Bilanzen unter neuen Kriterien anzustellen. Ausgeprägtere Unterschiede und Benachteiligungen allein auf familiäre Ursachen zurückzuführen birgt die Gefahr, dass angebliche kindliche Traumatisierungen durch die Eltern verewigt werden und einen destruktiven Geschwisterkonflikt dauerhaft unterhalten. Denn die Erfahrung von Ungerechtigkeit ist dann besonders schmerzhaft und schwer korrigierbar, wenn man davon überzeugt ist, sie als Kind in der eigenen Familie gemacht zu haben. Wie viele Möglichkeiten der Erinnerungstäuschung und Realitätsverzerrung dabei allerdings bestehen, wurde an früherer Stelle ausführlich erörtert. Die Einsicht dagegen, dass auch das spätere Leben die Chancen jedes Einzelnen ungleich verteilt, ist vergleichsweise leichter zu verarbeiten, weil damit erstens nicht das tief verinnerlichte familiäre Loyalitätsprinzip verletzt wurde und weil es sich zweitens um ein kollektives Schicksal handelt, das jeder auf seine Weise erfährt und bewältigen muss. Außerdem erfolgen solche gesellschaftlich bedingten Verletzungen in der Regel erst dann, wenn das Selbst ausreichend erwachsen und stabil ist, um die durch sie verursachten persönlichen Kränkungen und Geschwisterrivalitäten angemessener verarbeiten zu können.
    Ein geradezu harmloses und amüsantes Beispiel für die Frage, wie sich unterschiedliche gesellschaftliche Biografien auf Geschwister auswirken können, lieferte mir vor einigerZeit ein Klempner, der eine Wasserleitung in meinem Bad reparierte. Ich

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