Geschwister - Liebe und Rivalitaet
weswegen sie für längere Zeit zu mir in Behandlung kam. Angetrieben von ihrem Ehrgeiz bestand sie ein glänzendes Abitur, studierte Sprachen und arbeitete erfolgreich in einem Spracheninstitut. Ihre schriftstellerischen Ambitionen gab sie nach einigen erfolglosen Publikationsversuchen auf.
Thomas zog mit 18 Jahren aus der Familie aus und bezog eine düstere Hinterhofwohnung. Er brach mehrere Ausbildungen nach kurzer Zeit ab, jobbte zwischendurch, lebte aber hauptsächlich von der Unterstützung der Eltern. Schlimmer als sein Drogenkonsum, der eine Phase der Beschaffungskriminalität zur Folge hatte, nahm mit den Jahren sein Alkoholabusus zu, der schließlich in einem manifesten Alkoholismus mündete. In dieser Zeit machte auch er bei mir einen Therapieversuch, den er aber nach wenigen Stunden beendete. Auch andere Therapiemöglichkeiten lehnte er kategorisch ab.
Marina ließ sich von ihrer Mutter immer stärker in die Verantwortung für ihren Bruder einbinden. Verzweifelt bemühte sie sich wegen seiner zunehmenden Verwahrlosung in seiner Wohnung und in seinem Äußeren und aus Sorge um seine Gesundheit, ihn aus seiner hoffnungslosen Lage zu retten. Vergeblich. Im Gegenteil reagierte er auf die Hilfsangebote mit Vorwürfen, üblen Beschimpfungen und im trunkenen Zustand mit Rausschmissen aus seiner Wohnung.
Eines Tages, es waren nach dem frühzeitigen Tod beider Eltern wieder einige Jahre verstrichen, in denen Marina alleine die Verantwortung und die Fürsorge für ihren Bruder hatte und gegen seinen Widerstand das Erbe vernünftig verwalten musste, rief sie mich an.
»Was soll ich tun? Ich bin gescheitert! Ich kann nicht mehr!«
Weinend betrat sie zum verabredeten Termin das Zimmer. Auf meine Frage, was geschehen sei, erzählte sie, dass Thomasmit einem schweren Alkoholdelir in die Klinik eingeliefert worden sei.
»Gibt es noch irgendetwas, was ich für ihn tun kann?«, fragte sie erschöpft.
»Ich glaube, wenn du ihn öfter im Krankenhaus besuchst, einfach nur da bist, und wenn du nach seiner Rückkehr regelmäßig seinen Kühlschrank mit ausreichenden Lebensmitteln versorgst und gelegentlich seine Wäsche wäschst, tust du alles, was noch möglich ist.«
Bei dem »Du« waren wir seit ihrer Behandlung während der Pubertätsjahre geblieben. Sie wollte es so. Jetzt schaffte es eine Nähe, die sie dringend brauchte. Ich versuchte, sie zu trösten, indem ich ihr am Beispiel ihres Bruders etwas über den Selbsterhaltungs-, Selbstheilungs- und Selbstrettungstrieb erklärte, die hinter jeder Hilfeverweigerung stehen. Und ich ermutigte sie, ihrem Bruder bei aller Tragik nicht die Anerkennung und den Respekt für seine Haltung zu verweigern.
Zwei Wochen später schickte sie mir mit der Bemerkung »Danke für das letzte Gespräch« die Todesanzeige. Thomas war an den Folgen des Delirs gestorben.
Die Fallskizze veranschaulicht die komplizierte wechselseitige Dynamik von Hilfeleistungen. Von ihr ist nicht nur der Hilfsbedürftige betroffen, sondern auch der zur Hilfe Geforderte. Auf Seiten des Hilfsbedürftigen sind Schuldgefühle und Scham über die eigene Krankheit und Schwäche, das eigene Scheitern und die dadurch bedingte Verletzung von familiären Wertnormen und Erwartungen die eine Ursache für die Ablehnung von Hilfe; die andere Ursache ist die panische Angst vor Abhängigkeit, die einen noch wehrloser und ohnmächtiger macht und die einen darüber hinaus noch zur Dankbarkeit verpflichtet. Die Abwehr von Hilfe nimmt dabei häufig die Form einer starren und wütenden Verweigerung an. Nur in der stolzen Verneinung kann die Kränkung erträglich gemacht und dasbrüchige Selbstgefühl zusammengehalten werden. So eindeutig diese Haltung nach außen hin erscheint, so wenig entspricht sie der inneren Erwartung. Denn je ausgeprägter das Scheitern, umso tiefer reicht die Ambivalenz. So steht neben der wütenden Verweigerung die Sehnsucht nach Verständnis und Unterstützung. Sie ist mit der Erwartung verknüpft, die Geschwister möchten das Manöver durchschauen und sich nicht von ihren Hilfsangeboten abbringen lassen. Tun sie dies doch, ist die Enttäuschung umso größer. Neuerlicher Rückzug und Verstärkung der kämpferischen Abwehr sind die Folge. Der masochistische Kreislauf mündet in eine zunehmende Verhärtung der Geschwisterbeziehung.
Entsprechend kompliziert ist die innere Situation des stabilen Geschwisters. Es steht ratlos vor den Fragen, wie sie in der Fallskizze anklingen: Wie soll ich helfen,
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