Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Aufstellung einer Bilanz zu der verbreiteten Erfahrung, dass die meisten Menschen, so sehr sie auch in vielen äußeren Merkmalen gegenüber anderen benachteiligt zu sein scheinen, sich nicht vorstellen können und auch nicht wünschen, die Rolle mit einem anderen zu tauschen. Es gibt, bis auf Ausnahmen, in jedem einen Kern von Selbstachtung, Selbstidentität und Selbstbewahrung, der als unverwechselbarer und unaustauschbarer Bestandteil die eigene Existenz schützt. Diese in der Fachsprache als »Selbstkohärenz« bezeichnete Sicherheit dient der notwendigen Abgrenzung von den anderen, dem Fremden, durch Selbstvergewisserung. Ohne sie käme es zu einer bedrohlichen Rollendiffusion mit der Gefahr der Selbst-Auflösung, wie sie im Extremfall in der psychotischen Persönlichkeitsspaltung und -entfremdung auftritt. In der Vorstellung oder gar Gewissheit, Jesus Christus, die Jungfrau Maria oder irgendjemand anderes zu sein, hat das Selbst jeden Bezug zur Realität und zur eigenen Person aufgegeben und sich in das fantasierte Fremde verwandelt.
Der Zusammenhang beleuchtet Geschwisterkonflikte aus einer ungewohnten Perspektive. Man kann mit einem Bruder um den großen Erfolg rivalisieren oder ihm seinen Reichtum missgönnen, man kann die Schwester um ihren attraktivenMann beneiden oder für die Art hassen, mit der sie sich bei anderen beliebt macht. Wirklich gefährlich werden solche destruktiven Gefühle aber erst dann, wenn die Bilanzen im Vergleich so stark auseinanderdriften, dass sie das Selbstgefüge des Benachteiligten aufzulösen drohen. Die vielen Bruder- und Schwesternmorde in Mythologie, Märchen und Dichtung thematisieren diesen Grenzbereich geschwisterlicher Erfahrung in einer bisher noch nicht aufgetauchten symbolischen Bedeutung: Erst durch die Vernichtung des anderen kann man sich an seine Stelle setzen, die Rolle tauschen und damit die Negation der eigenen Person und den mit ihr verbundenen Selbsthass aufheben. Danach ist der Mord eine Art psychotischer Prozess, bei dem die Realitätszusammenhänge umgekehrt (»verrückt«) werden: Nur die Zerstörung macht den Tausch des eigenen Selbst gegen die Person des Opfers möglich. Auf diese Weise kann man selbst König sein, den schönsten Prinzen heiraten oder unvorstellbare Reichtümer erwerben. Der Versuch zum Rollentausch endet im Märchen wie in der Realität aber meist doppelt tragisch, weil er auch einen Verrat am eigenen Selbst bedeutet – er ist Selbst-mörderisch.
Zum Glück zählen solche Grenzerfahrungen von Geschwisterkonflikten im Alltag zur Ausnahme. Mord und Selbstmord im Zusammenhang einer unversöhnlichen Geschwisterfeindschaft sind, im Unterschied zu Partnerschaften, statistisch extrem selten. Häufiger ist eine mildere Variante – der endgültige Kontaktabbruch oder langjährige Trennungen. Mit ihnen kann man den potenziell »mörderischen« Konflikten am besten ausweichen – und damit der Aufgabe, sie zu bewältigen. Allerdings ist auch diese Variante nicht typisch für die Lösung von Geschwisterkonflikten. Im Gegenteil erfolgt, nach Auswertung verschiedener Studien über den lebenslangen Verlauf von Geschwisterbeziehungen, »nur höchst selten eine vollständige Einstellung des Kontaktes«. 45 Offenbar wirkt hier die Bilanzierungdes Lebens nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit dem Zerbrechen der Bindung durch unkontrollierbar gewordene destruktive Affekte entgegen.
Die Auslöser für Geschwisterkonflikte im mittleren und späten Erwachsenenalter gruppieren sich um die zentralen inneren und äußeren Aufgaben dieser Zeit, wie sie in den Fragen zur Lebensbilanz bereits anklangen. Ich beschränke mich hier auf die Erörterung eines für diesen Lebensabschnitt besonders typischen und markanten Problemkreises, und zwar auf die Konstellation, bei der ein Geschwister seinen Lebensentwurf verfehlt hat.
Die Ursachen mögen in die Kindheit zurückreichen und die Brüche in der Lebensentwicklung bereits dort, in der Jugend oder erst im frühen Erwachsenenalter sichtbar geworden sein. In jedem Fall führt das Scheitern am eigenen Lebensentwurf im mittleren und verstärkt im späten Lebensalter noch einmal zu einer verschärften Krise, weil es jetzt durch keine Illusionen und falschen Hoffnungen auf zukünftige Veränderungen mehr verdeckt werden kann. Häufig wird erst dadurch die neurotische Disposition manifest. Es kommt zum Ausbruch seelischer oder psychosomatischer Erkrankungen oder zur Entwicklung einer Sucht. Ein solcher
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