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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Verlauf verschlimmert und chronifiziert das Scheitern und lässt unentrinnbare Zirkel entstehen. Durch sie wird der Betreffende in der Regel zum »Problemfall« für seine Umwelt. Gewollt oder ungewollt wird er zunehmend vom Verständnis, von der Zuwendung und von der konkreten fürsorgerischen und materiellen Hilfe anderer abhängig.
    In dieser Situation entwickelt sich ein nahezu auswegloser Geschwisterkonflikt. Einerseits verlangt die frühe Geschwisterliebe und familiäre Loyalität von den gesunden Geschwistern, sich intensiv um das unglückliche Geschwister zu kümmern und es bei sozialen Schwierigkeiten zu unterstützen.Andererseits spüren die Geschwister deutlich auch den Widerstand gegen jedes Hilfsangebot. Ich habe an früherer Stelle auf die Besonderheit der Geschwisterliebe hingewiesen, dass sie es erlaubt, Hilfe ohne Angst und Scham annehmen zu können. Dies gilt nach aller Erfahrung in der Regel jedoch nur für ausreichend ausgeglichene und stabile Geschwisterbeziehungen. In unausgeglichenen Beziehungen wird dagegen die Hilfe häufig aus Schuld- und Schamgefühlen abgewehrt: Erstens käme ihre Annahme dem Eingeständnis des Versagens gleich und würde es öffentlich machen; zweitens könnte mit der Annahme von Hilfe eine Abhängigkeit erneut hergestellt oder offiziell dokumentiert werden, aus der man sich sein ganzes Leben lang versucht hat zu befreien.
    Da das Thema der Hilfe in Geschwisterbeziehungen grundsätzlich Bedeutung hat und es besonders zum Problem werden kann, wenn es zu ungleichen Bilanzen im Lebensaufbau gekommen ist, beschreibe ich in der notwendigen Kürze die traurige Geschichte eines Geschwisterpaares, das ich, einschließlich der Eltern, mit größeren Abständen über Jahrzehnte therapeutisch begleitet habe.
    Familie O. lernte ich auf Bitten des Vaters im Rahmen eines Familiengesprächs kennen, nachdem der Sohn zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Die Eltern, ein Lehrerehepaar, verhielten sich recht distanziert zueinander. Marina, damals 14   Jahre alt, eine hübsche, schick gekleidete und, wie der Vater betonte, sehr gute Gymnasialschülerin, beteiligte sich kaum an dem Gespräch. Thomas, 16   Jahre alt, hatte gerade mit Mühe die Mittlere Reife auf einer Realschule geschafft. Auf die Vorwürfe des Vaters, er sei faul, habe keine Berufspläne und sich stattdessen anscheinend für eine kriminelle Laufbahn entschieden, leugnete er jede Teilnahme an dem ihm vorgeworfenen Gruppendiebstahl. Seiner sehr viel jüngeren Frau warf Herr O. vor, sie habe Thomas von Kindheit an sostark verhätschelt, dass deswegen »nichts Anständiges« aus ihm werde. Frau O. wirkte in dem Gespräch merkwürdig eingeschüchtert.
    Bereits am folgenden Tag rief sie mich an und bat um einen persönlichen Termin. In dem Gespräch bedauerte sie, beim ersten Mal nicht offen gewesen zu sein. Sie könne sich nicht gegen ihren Mann wehren, obwohl sie seine beherrschende und autoritäre Art oft nur schwer ertrage. Besonders tue ihr Thomas leid. Ihr Mann ließe kein gutes Haar an ihm, mache ihn ständig herunter und blamiere ihn öffentlich bei jeder Gelegenheit. Sie versuche dagegenzusteuern, indem sie Thomas in Schutz nehme und ihm helfe, wo immer sie könne. Aber der Konflikt mit dem Vater treibe ihn immer mehr in die Verweigerung. »Eines Tages wird er tatsächlich kriminell werden, das ist meine schlimmste Sorge«, sagte Frau O.
    »Wie erklären Sie sich, dass Marina sich so ganz anders entwickelt hat als Ihr Sohn?«, wollte ich wissen.
    »Seit sie mit zwölf Jahren ihr erstes Gedicht in einer Schülerzeitung unterbringen konnte, hält mein Mann sie für eine begnadete Dichterin. Ständig treibt er sie an, gute Literatur zu lesen und täglich ein Gedicht zu schreiben. Marina fühlt sich natürlich sehr geschmeichelt, aber ob das gut geht, wage ich zu bezweifeln. Und Thomas entfernt sich dadurch auch immer mehr von seiner Schwester, obwohl sie als Kinder unzertrennlich waren.«
    Thomas brach nach drei Sitzungen die Familiengespräche ab, weil der Vater entgegen allen therapeutischen Bemühungen seine starre Vorwurfshaltung gegen den Sohn und seine blinde Idealisierung der Tochter nicht aufgeben konnte. Danach endeten die gemeinsamen Gespräche. In den folgenden Jahren kam Frau O. zu vereinzelten Terminen oder rief mich verzweifelt an, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Dadurch war ich über die weitere Entwicklung der Geschwister informiert. Marinadurchlitt während der Pubertät eine Anorexie,

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