Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Bündnisse hängen nicht von der Form oder den Begriffen ab, ob man sie als Ein-Eltern-, Nachscheidungs-, Fortsetzungs- oder Patchwork-Familie bezeichnet oder ob man nicht verheiratete oder neu verheiratete Eltern mit Kindern aus früheren Ehen oder Lebensgemeinschaften als Stiefmutter und Stiefvater oder als Ersatzmutter und Ersatzvater oder als soziale Mutter und sozialer Vater bezeichnet.
Die neueste Version, das Dilemma der Begriffe aufzulösen, stammt von dem bekannten dänischen Pädagogen und Familientherapeuten Jesper Juul. Da die Begriffe Patchwork-Familie und Stiefeltern so belastet seien, schlägt er stattdessen »Bonusfamilie« und »Bonuseltern« vor, Bezeichnungen, die er auf alle Beteiligten überträgt: »Bonusvater«, »Bonusmutter«, »Bonusoma«, »Bonuskind« usw. Abgesehen davon, dass man bei diesen Wortbildungen eher an Rabattmarken oder sonstige Geschäftsvorteile statt an positive Eltern-Kind-Bindungen denkt, liegt ihr Denkfehler in der Nichtberücksichtigung des dynamischen Wandels von Beziehungen. Denn in der Realität kann sich zwar eine anfänglich eher ambivalente bis ablehnend eingestellte Stiefmutter zur sogenannten »Bonusmutter« entwickeln, was auch für alle anderen Mitglieder der neu gegründeten Familie zutreffen mag. Aber was geschieht, wenn der umgekehrte Fall eintritt? Dies dürfte eher häufiger zu erwarten sein, weil stärkere Konflikte in solchen Systemen erst mit der Zeit auftreten, wenn das Leben alle Beteiligten voll im Griff hat. Dann verwandelt sich die Bonusmutter wie im Märchen in die Stiefmutter zurück, oder sollte man dafür den Begriff der »Malusmutter« kreieren?
Insgesamt erwecken der »Bonus«-Begriff wie alle anderen genannten und weitere Definitionen den Eindruck, als wollten sie die Tatsache verdecken, dass jede Trennung einer Familie und die anschließenden Reorganisationsbemühungen Flickwerk bleiben und konsequenterweise als Flickenteppichfamilienangesehen werden müssen. In jedem Fall erfordert die Lösung der durch sie aufgeworfenen Probleme von allen betroffenen Erwachsenen ein Höchstmaß an Konfliktfähigkeit, Flexibilität, Toleranz und innerer Reife. Da diese Fähigkeiten nicht von allen Beteiligten in gleicher Weise vorausgesetzt werden können, ist der Spielraum für Konflikte beliebig groß. Aus ihnen stammt hauptsächlich die belastende Hypothek, die Stief- und Halbgeschwistern häufig aufgebürdet wird und die sich als destruktive Affekte zwischen ihnen und den leiblichen Kindern entlädt.
Wie komplex diese Zusammenhänge aus tiefenpsychologischer Sicht sind, lässt sich am ehesten an einer konkreten Behandlung beschreiben. Anna war 16 Jahre alt, als sie von ihrem Hausarzt zu mir überwiesen wurde. Sie klagte über unklare Magenbeschwerden mit Essstörungen, über Kopfschmerzen, depressive Verstimmungen und einen Leistungsabfall in der Schule, der ihre Versetzung gefährdete. Sie war ein aufgeschlossenes, lebhaftes Mädchen, dem man sein Leiden zunächst kaum anmerkte.
Aus der Vorgeschichte erfuhr ich von ihr, dass sie als Fünfjährige mit ihrem Vater Franz zu dessen Freundin Rose und deren gleichaltriger Tochter Jenny gezogen war. Ihre Mutter Dagmar war mit dieser Entscheidung einverstanden, da sie noch eine zeitaufwendige Ausbildung machen wollte und sich von ihrem Mann einvernehmlich getrennt hatte. Sie konnte sich darauf verlassen, dass ihre Tochter regelmäßige Zeiten bei ihr verbrachte. Sie verstand sich gut mit der Freundin ihres Mannes und war als gern gesehener Gast bei allen Feierlichkeiten der neuen Familie dabei. »Wir sind eine richtig gute Patchwork-Familie«, strahlte Franz des Öfteren gegenüber Freunden.
Die Tatsache, dass sich die beiden Mädchen als ehemalige Einzelkinder nach anfänglicher Fremdheit und Anpassungsschwierigkeiten wie »richtige« Schwestern fühlten und dasssie den jeweiligen Stiefelternteil bald voll akzeptieren konnten, schien seinen Optimismus zu rechtfertigen. Das gemeinsame Glück täuschte jedoch darüber hinweg, dass Jenny die ersten fünf Lebensjahre vaterlos aufgewachsen war. Sie kannte ihren Vater nicht, da er kurz nach der Geburt die Mutter verlassen und sich nie mehr gemeldet hatte. Auch Anna trug eine heimliche Last mit sich, da sie trotz des guten Verhältnisses zwischen der neuen Familie und ihrer Mutter deren Einsamkeit spürte und vergeblich hoffte, dass auch sie einen neuen Partner finden würde. Der Gedanke, ihre Mutter trotz deren Einverständnis verlassen zu haben, verband
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