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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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sich für sie auf Dauer mit einem untergründigen Gefühl von Schuld.
    Trotzdem war mir nach dieser Vorgeschichte noch unklar, warum Anna unter einer so vielfältigen und sie offenbar quälenden Symptomatik litt. Sie selbst hatte auch keinerlei Erklärung dafür. Auf meine Frage »Wann fing das alles an?«, entspann sich folgender Dialog:
    »Das ist schon ziemlich lange her, etwa fünf bis sechs Jahre.«
    »Vielleicht gab es damals irgendetwas Wichtiges, was sich ereignet hat.«
    Nach längerem Nachdenken fällt ihr die Einschulung aufs Gymnasium ein, wo sie mit Jenny in die gleiche Klasse kam. Sie sei anfänglich eine recht gute Schülerin gewesen.
    »Besser als Jenny?«
    »Nein, wir waren gleich gut und haben uns bei den Schulaufgaben gegenseitig viel geholfen.«
    »Bis heute?«
    Anna macht eine Pause und schaut mich mit großen Augen an. »Nein«, sagt sie dann, »aber das fällt mir erst jetzt auf. Wir arbeiten eigentlich schon lange nicht mehr zusammen.«
    »Wie lange?«
    »Schon lange. Wir sind auch nicht mehr in der gleichen Schule. Jenny wollte auf ein besseres Gymnasium.«
    »Ich vermute, dass es einen Grund gibt, warum ihr die frühere Gemeinsamkeit aufgegeben habt.«
    Anna überlegt lange. Plötzlich bricht es aus ihr heraus: »Mein Bruder! Meine Güte, ich habe ihn ja völlig vergessen! Es könnte durch meinen Bruder gekommen sein.«
    Natürlich lag an dieser Stelle die Frage nahe, warum Anna in ihrer Vorgeschichte ihren Bruder »vergessen« hatte und welche mögliche Rolle er beim Zustandekommen ihrer Symptomatik spielte.
    Die Beantwortung ergab sich erst in langsamen Schritten im Verlauf einer eineinhalbjährigen, 50   Stunden umfassenden Behandlung. Ich fasse hier die wichtigsten Punkte zusammen, die zur Klärung der Krankheitsursachen und zur weiteren Lösung von Annas Problemen beitrugen.
    Fünf Jahre nach Gründung der neuen Familie kam der Halbbruder Hanno zur Welt. Die beiden Stiefschwestern waren damals zehn Jahre alt. Wie häufig in solchen Konstellationen, konnte sich das weiterhin unverheiratete Paar Franz und Rose erst zu diesem späten Zeitpunkt zu einem gemeinsamen Kind entscheiden. Der Einschnitt durch dieses Ereignis muss für alle Beteiligten so dramatisch gewesen sein, dass Anna im Laufe der nächsten Jahre die Einzelheiten verdrängt hatte. Erst durch ihre therapeutische Rekonstruktion kamen sie wieder ans Tageslicht und ergaben folgendes Bild:
    Dagmar, Annas Mutter, brach nach der Geburt den Kontakt zu der Familie abrupt und für immer ab. Sie hatte sich in ihrer Ehe sehnlichst ein zweites Kind gewünscht, was von ihrem Mann kategorisch abgelehnt wurde. Dass er jetzt doch mit Rose noch mal ein Kind gezeugt hatte, erlebte sie als einen tiefen Verrat und als Kränkung, die sie nicht überwinden konnte. Anna geriet dadurch in einen schweren Loyalitätskonflikt, zu wem sie halten sollte, und ihre Schuldgefühle der Mutter gegenüber verstärkten sich. Sie besuchte sie jetzt häufiger alsfrüher, wodurch sie sich von ihrer neuen Familie entfernte. Auf diese Veränderung reagierten jetzt ihr Vater und ihre Stiefmutter Dagmar gegenüber mit ablehnenden Bemerkungen und luden ihre Enttäuschung über ihr Verhalten auf Anna ab.
    »Allmählich fühle ich mich in der Familie immer mehr ausgegrenzt«, sagte sie. »Aber noch schlimmer waren die Reaktionen von Jenny.«
    Nach der Geburt von Hanno, so ließ sich aus Annas Rückerinnerung schließen, stürzte sich Jenny geradezu eifersüchtig auf das Baby und schloss ihre Stiefschwester so gut sie konnte aus der Versorgung und später aus dem gemeinsamen Spiel aus. Sie schien sich als die eigentlich zugehörige Tochter zur Familie zu fühlen, da Anna ja tatsächlich immer noch einen Fuß im Haushalt der Mutter hatte. So machte sie sich mit der Zeit bei ihrem Halbbruder immer beliebter und wurde folgerichtig seine »Lieblingsschwester«. Aber ihre Fürsorge war nicht nur uneigennützig, da sie sich damit, so kam es Anna vor, auch bei den Eltern als »Lieblingstochter« einschmeichelte. 46
    Eine Steigerung dieses Konkurrenzverhaltens um die Liebe der Eltern fiel mit Beginn der Pubertät zusammen. Jenny entwickelte als vaterlose Tochter eine auffällige Zuneigung zu ihrem Stiefvater und versuchte, ihn in kokettierender, oft auch provozierender Weise für sich zu gewinnen. Da sie ein hübsches und schulisch erfolgreiches Mädchen war, blieben ihre Versuche nicht ganz erfolglos, während Franz zu seiner eigenen Tochter wegen ihrer guten Beziehung zur

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