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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Pflicht« brüderlicher Liebe und familiärer Verantwortung verraten wird. Es handelt sich um eine geradezu tragische Bruderkonstellation, die an den bekannten Tragödienstoff der Antigone denken lässt, diesen allerdings umkehrt. Nach Sophokles begräbt Antigone ihren Bruder Polyneikes gegen das ausdrückliche Verbot König Kreons, weil sie ihre Geschwisterliebe und das Gesetz familiärer Loyalität höher stellt als alle Staatsräson – eine Überzeugung, für die sie ihr eigenes Leben opfert.
    Wie lässt sich die Umkehrung bei den beiden Brüdern erklären? Der Tod eines Kindes, so sahen wir früher, ist der wohlaufwühlendste Schmerz, den man einem Menschen zufügen kann. Mit dem Kind trägt man auch einen Teil von sich selbst zu Grabe. In dieser Situation dem Bruder die Hand zu verweigern und die Bruderliebe endgültig zu opfern drückt eine Versteinerung aus, die auf eigene ungeheilte und tiefe Wunden schließen lässt. Sie sind es, die jenseits der Oberfläche die schweren Geschwisterentzweiungen erklären, zu denen es im Zusammenhang mit den drei genannten Anlässen kommen kann. In unserem Fall hat daher der tote Sohn und Neffe den Grad der Unversöhnlichkeit und das Ausmaß der Verletzungen zwischen den Brüdern lediglich erst erkennbar werden lassen.
    Nur ein Blick hinter die oberflächliche Streitfassade wird also die Frage klären können, wie es zu einer solchen Zuspitzung des Bruderkonfliktes kommen konnte. Zur Rekonstruktion ihrer Geschichte dienen mir die ausführlichen Berichte des jüngeren Bruders während der Beratungsstunden, die ich durch theoretische und praktische Erfahrungen ergänze, wie sie ins Repertoire jedes Psychotherapeuten gehören. Nach dieser Rekonstruktion lässt sich die Dynamik des Bruderkonfliktes etwa folgendermaßen verstehen: Der ältere Bruder wurde schon sehr früh in die Rolle des Nachfolgers im väterlichen Betrieb gedrängt. Mit viel Fleiß, Anstrengung und Erfolg richtet er alle Bemühungen darauf, den Auftrag der Eltern zu erfüllen, wofür er besonders vom Vater die ersehnte Anerkennung bekommt. Eines Tages schlägt er dem Vater vor, eine moderne Maschine anzuschaffen, die zwar teuer, auf Dauer aber produktiver sei. Der Vater scheut das Risiko der Investition. Von dieser Zeit an wird aus der Kooperation und konstruktiven Konkurrenz zwischen Vater und Sohn eine destruktive Rivalität, die in einen langen und aufreibenden Machtkampf einmündet. Die Anerkennung des Vaters kehrt sich in beleidigte Ablehnung um, der sich die Mutter anschließt, weil sie ihren Mann leiden sieht, mit ihm loyal ist und den Sohn jetzt zu rücksichtslos in seinerunternehmerischen Expansion findet. Dieser hat nichts anderes getan, als die ursprünglichen und ehrgeizigen Pläne seiner Eltern zu realisieren, hat den Betrieb durch Krisen gebracht, den alten Eltern ein gutes Einkommen gesichert – und erntet jetzt am Schluss nur Missbilligung. Er fühlt sich missbraucht. Ihn lässt die Frage nicht mehr los, wen die Eltern geliebt haben, ihn als eigene Person oder ihn als willigen Erfüllungsgehilfen ihrer Lebensziele. Diese ihn offenbar sehr quälende Frage bleibt bis zum Tod der Eltern unbeantwortet und begleitet ihn sein weiteres Leben. Noch im Altenheim besucht er sie fast täglich, um sie seiner Liebe zu versichern, um seine Rivalität mit dem Vater wieder gutzumachen und um durch ihre Liebe versöhnt zu werden.
    Und da gibt es noch den jüngeren Bruder, das Hätschelkind. Nachdem klar ist, wer die Hauptaufgabe der Familie – den Erhalt und die Fortführung des Betriebes – tragen wird, kann er sich frei entwickeln, gewöhnt sich an die Verwöhnung und absichtslose Liebe der Eltern, erlernt einen Beruf, bei dem es immer etwas knapp ist; immer wieder greifen die Eltern ihm unter die Arme, auf sie ist Verlass. Ihre Liebe, Zuwendung und materielle Hilfe werden umso größer, je hilfloser ihnen der »Kleine« vorkommt. Er muss nichts dafür tun. Erst als er erwachsen ist und die Eltern schon alt, merkt er, wie unselbstständig er geblieben ist. Jetzt will er sich abgrenzen, stößt die Eltern von sich; im Geheimen weiß er, dass er so schnell nicht ihre Liebe verlieren wird. Den älteren Bruder beneidet er jetzt um seine Selbstständigkeit und das von ihm erwirtschaftete Kapital. Er besucht seine Eltern nur widerwillig im Altenheim, um seinem Bruder zu beweisen, dass er kein Muttersöhnchen mehr ist; außerdem ist es eine stille Rache für die überbehütende und ihn letztlich behindernde Liebe

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