Geschwister - Liebe und Rivalitaet
seiner Eltern.
Als diese kurz hintereinander sterben, trauert der ältere Bruder sehr intensiv, weil er nun die Hoffnung aufgeben muss,noch jemals eine Liebe zu bekommen, die nicht an eine Delegation gebunden ist, eine uneigennützige Liebe, die nur ihm gilt. Der jüngere Bruder trauert auch stark, aber aus einem anderen Grund: Er merkt, dass er doch seine Selbstständigkeit noch zu Lebzeiten der Eltern nicht erreicht hat und sie ihm jetzt als hilfreiche und stützende Objekte fehlen.
Im Testament werden die 40 bis 50 Jahre lang bestehenden Familienregeln noch ein letztes Mal als Dokument festgeschrieben: Der ältere Bruder bekommt nun auch rechtlich den gesamten Betrieb überschrieben. Dass dieser überhaupt noch existiert und das Kapital in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich durch seinen unternehmerischen Mut und Einsatz gewonnen wurde, wird dabei übersehen; ebenso, dass die jahrelangen Zuwendungen an den Bruder letztlich von ihm erwirtschaftet wurden. Im Testament wird er vom Restvermögen der Eltern ausgeschlossen – aus rational sogar einsehbaren Gründen: Er ist leistungsstark und besitzt mit dem Betrieb genügend Grundwerte, während der Jüngere finanziell relativ ungesichert ist. Es liegt daher auch auf der Hand, dass der ältere Bruder seinen Pflichtanteil nicht deshalb einklagt, weil er noch mehr Geld benötigt. Er klagt gegen das Unrecht, das im Testament die ungleiche Behandlung der beiden Brüder seit ihrer Kindheit besiegelt. Es ist ein letzter Kampf um Gerechtigkeit, die das Gericht sprechen soll, wenn die Eltern es schon nicht vermochten. Aber wie immer das Urteil ausfällt – das Testament wurde von den Eltern erstellt, und mit ihm wird Recht oder Unrecht gesprochen, vor jeder Entscheidung des Gerichts, und das Testament enthüllt in seiner Rechtsprechung, ob die Liebe zu den Kindern gleichmäßig verteilt war. Wenigstens das Testament soll dies beweisen, auch wenn die Realität eine andere war. Der Streit um das Erbe, so lässt sich formulieren, ist, wie der Streit um die Pflege und wie die unterschiedliche Trauer um den Tod, eine Frage der Liebe. Das verbindet die drei Ereignisse in derletzten Lebensphase. Wo der Streit um die Pflege entbrennt, ist der Streit um das Erbe nicht weit. »Wer ist am meisten geliebt worden?« steht auf der einen und »Wer hat die Liebe am meisten verdient?« auf der anderen Seite der Medaillen, die beim Tod der Eltern ein letztes Mal unter den Geschwistern verteilt werden. Dabei kann sich erweisen, dass diejenigen, die sich am meisten angestrengt haben, am wenigsten bekommen, und die anderen, die »verlorenen Söhne«, die sich um nichts kümmern, zum Schluss die Geliebtesten sind. Diese im Neuen Testament im Stil eines harten Realismus beschriebene Ungerechtigkeit wird im Erbtestament noch einmal zur schmerzhaften Wahrheit. Die »Testamentseröffnung« als Ritual des »letzten Willens« und als die Aufdeckung eines lange gehüteten Geheimnisses bringt endlich an den Tag, was mit Angst, Bangen, Sehnsucht, Neugier, Ungeduld und guten oder bösen Ahnungen lange erwartet wurde – die Antwort auf die Frage: »Wer wurde am meisten geliebt?« Dabei verwandelt sich das Testament in ein sprechendes Spieglein: »Dich, Tochter, habe ich sehr geliebt, aber deine Schwester, die mit den blonden Haaren und den blauen Augen und dem fröhlichen Lachen, die habe ich tausendmal mehr geliebt als dich.«
So wird es dem älteren Bruder ergangen sein, als er das Spieglein sprechen hörte. Und er versteinerte. Egal, welches Unglück den jüngeren Bruder treffen würde – es war kein Gefühl mehr für ihn da. Zu tief ging der Schmerz, nach Jahrzehnten harter Arbeit die Wahrheit zu erfahren. Kain und Abel. Der Fluch des einseitigen Segens.
Wir verstehen. Es geht nicht um Teetassen, alte Möbel, Teppiche und Schmuck, auch nicht um 10, 20 oder 100 000 Euro, wenigstens nicht in der tiefsten Schicht unserer Wünsche, auch wenn es schön ist, dies alles zu besitzen. In der tiefsten Schicht geht es bei der Erbschaft ein letztes Mal um die Gretchenfrage jeder Eltern-Kind-Beziehung: »Wie sehr wurdeich geliebt?« Wenn es darüber keine innere Gewissheit gibt, und die gibt es relativ selten, dann können nur die Geschwister den Vergleichsmaßstab für diese Liebe bilden: »Wer wurde am meisten geliebt?« Dabei können Testamente ungerecht und gerecht sein. Im ersten Fall sind Geschwisterkonflikte geradezu vorprogrammiert. Aber auch im zweiten Fall sind leider, aus Gründen
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