Geschwister - Liebe und Rivalitaet
subjektiver Verzerrung, Falschinterpretationen möglich, weil der Abschied von den Eltern hoch emotionalisiert und mit langer Geschichte befrachtet ist. Ihr Tod und ihr Testament schmelzen zu einem letzten Zeugnis ihrer Liebe zusammen.
Im Stadium der Pflegebedürftigkeit der Eltern glauben viele Kinder, ihre Bilanzen noch verbessern zu können. Deswegen entbrennt um sie häufig so viel Eifer, Rivalität und Neid, die sich in den seltsamsten Verkleidungen zeigen. Erfahrungsgemäß haben jedoch die Eltern ihre unbewussten Gefühlsentscheidungen schon Jahrzehnte davor getroffen. Umso ernüchternder kann dann der »letzte Wille« sein.
Eine Funktion der Gegenstände und sonstigen Werte, die bei der Erbschaft zur Verteilung kommen, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Über ihre schöne Nützlichkeit hinaus werden sie nach dem Tod der Eltern zu Partialobjekten umgewandelt. Dabei werden jedes Service, jedes Silberbesteck, jedes Ölbild wie auch jede Geldanlage zu Teilen der Eltern, insofern, als diese die Dinge erworben und mit ihnen gelebt haben, in denen also die elterlichen Eigenschaften in quasi materialisierter Form überleben. In der Erwerbung einzelner dieser Gegenstände geht es um mehr als um Erinnerungen, die einen mit dem Toten verbinden sollen; es geht in einer tieferen Schicht um die Aneignung und Aufbewahrung von elterlichen Anteilen, die als gute innere Partialobjekte verinnerlicht werden. In diesem Sinne verwandelt sich die Erbschaft zur inneren Objektrepräsentanz, die eine gewisse Verwandtschaft zu sogenanntenÜbergangsobjekten hat. Wie in der Kindheit Kuscheltiere, Bettzipfel oder andere weiche Gegenstände zu ständigen Begleitern, Schützern und Tröstern werden, um den Übergang von der Mutter-Kind-Symbiose in die Autonomie zu erleichtern, garantieren auch die äußerlich besonders behüteten und als Partialobjekt verinnerlichten Erbschaftsstücke die Kontinuität der inneren Beziehung zu den Eltern, wenn diese einen mit dem Tod verlassen haben. Sie lassen ihren Besitz symbolisch als »Liebespfand« zurück, als Teile von sich selbst, die sich die Kinder »einverleiben« sollen.
Mir scheint, dass der erbitterte und völlig irrational erscheinende Kampf, den Geschwister oft um scheinbar unbedeutende Erbschaftsstücke führen, sich aus dieser symbolischen Bedeutung von elterlichem Besitz erklärt. Selbst für die Beteiligten ist in der Regel der hohe emotionale Stellenwert einzelner Gegenstände unerklärlich. Sie sind zu gefühlsbeladenen Kristallisationspunkten geworden, deren Spuren sich in der weiten Landschaft der familiären Vorgeschichte verlieren. Im Erbschaftsstreit kommt es zur Manifestation verschütteter Beziehungskonflikte, die sich an den umstrittenen Gegenstand fixiert haben; insofern verweist ein solcher Konflikt immer auch in die Vergangenheit. Zugleich ist er ein Zeichen für eine nicht bewältigte Trennungsproblematik von den Eltern. Wenn deren Erbe den überwertigen Charakter von Partial- und Übergangsobjekten behält und zur Ursache für einen geschwisterlichen Besitzkampf wird, dürfte der Loslösungs- und Individuationsprozess der betroffenen Geschwister nur unvollständig gelungen sein. Je stärker die ungelöste Bindung, umso größer ist die Lücke, die die Eltern hinterlassen, und umso unersättlicher kann der Wunsch nach ihrem Ersatz durch das Erbe werden. Ungelöste Bindungen sind regelhaft ein Hinweis auf Defizite in Bezug auf gute verinnerlichte Elternbilder und somit Ausdruck mangelhaft erfahrener Liebe. So schließt sich der Kreis,der die Unersättlichkeit und Kompromisslosigkeit bei Erbschaftskonflikten erklärt.
Der hier dargelegte tiefenpsychologische Erklärungsansatz für Erbschaftskonflikte zwischen Geschwistern erweitert das gängige Verständnis, das vom Egoismus und der Besitzgier des Einzelnen ausgeht. Dass es auch diese Variante feindlicher Erbauseinandersetzungen gibt, zeigt La Fontaine im Gewande einer Fabel. »Der Greis und seine Kinder« schildert das Zerbrechen geschwisterlicher Einigkeit und Liebe nach dem Tod eines Vaters, der seine Kinder in gleicher Weise geliebt hat und sie vor diesem Schicksal bewahren wollte:
»Ein Greis, dem wenig Zeit zu leben noch geblieben,
Sprach zu den Söhnen: ›O ihr Kinder, meine Lieben,
Seht, ob zerbrechen ihr dies Bündel könnt von Pfeilen,
Den Knoten, der sie hält, zeig ich euch ohn Verweilen.‹
Es müht der Älteste sich mit Aufwand aller Kräfte
Und spricht darauf: ›Ich geb dem Stärkeren die
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