Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
haben, sind für uns zwar zumeist Fremde, aber als Fremde sind sie doch weitgehend berechenbar in dem, was sie tun und wie sie es tun. Ausnahmen kommen vor, sind erträglich, manchmal sogar erwünscht als amüsante oder das Nachdenken provozierende Abwechslung, aber eben nur vor dem Hintergrund dessen, was wir als normales Verhalten betrachten, vor allem in den dem Alltag enthobenen Sphären der Kunst und der Unterhaltung. Eben weil der Zusammenhang von Konvention und Zivilität den meisten Menschen intuitiv bewusst ist, wird abweichendes Verhalten, wenn es im Ernstfall des Alltags auftritt, oft als irritierend, zuweilen gar als bedrohlich wahrgenommen.
Solange abweichendes Verhalten eine punktuelle Erscheinung inmitten eines ungefährdeten Kontinuums konventionell vertrauter Alltagserfahrung ist, bleibt die dadurch ausgelöste Irritation in der Regel folgenlos. Nachdem der erste Schock überwunden ist, wird das, was bedrohlich erschien, zumeist als kurios wahrgenommen und damit zum Material für amüsante oder nachdenklich stimmende Geschichten. Sobald aber in der Gesellschaft als ganzer unter dem Druck fortschreitender Individualisierung und Pluralisierung der Vorrat an geteilten
Erfahrungen, Werten und Verhaltensnormen und damit der sichere Rückhalt der mehrheitsgesellschaftlichen Kultur schmilzt, wächst die Gefahr, dass abweichendes Verhalten zu nachhaltiger Beunruhigung führt und aggressives Verhalten gegenüber »Fremden« fördert, selbst dann, wenn es sich bei diesen eigentlich um einheimische Minderheiten handelt.
Wenn wir uns heute in Europa umschauen, erkennen wir überall, dass das Fremde und die Fremden wieder verstärkt zur Projektionsfläche für Ängste und Aggressionen werden. Ausländerhass und Angst vor Überfremdung, bis vor wenigen Jahren noch Erscheinungen, die auf eine überschaubare Gruppe von Rechtsradikalen beschränkt zu sein schienen, sind heute auch in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft anzutreffen. Das ist schon seit einiger Zeit so in Österreich und in Italien, das ist aber heute nahezu überall in Osteuropa und auch in Frankreich so, wo der Front National sich mittlerweile zu einer ernsthaften politischen Konkurrenz der Konservativen und der Sozialisten entwickelt hat. Sogar in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern, die lange Zeit als Paradebeispiele für Zivilität und Gelassenheit im Umgang mit Fremden galten, wächst die Angst vor Überfremdung. Die Bilder aus Lampedusa, wo afrikanische Bootsflüchtlinge anlanden, um sich auf den Weg in die Länder Europas zu machen, wenn sie denn der Abschiebung entgehen können, schrecken die durch Globalisierung und Finanzkrise ohnehin verunsicherten Bürger. Die »Einwanderung in den Sozialstaat« (Thilo Sarrazin), so die immer wieder geäußerte Befürchtung, wird, wenn sie nicht energisch gestoppt wird, über kurz oder lang dem Wohlstand der Europäer ein Ende bereiten. Diese düsteren Ahnungen verbinden sich mit der Angst vor wachsender Drogenkriminalität und islamistischem Terror. Die durch das Buch von Thilo Sarrazin befeuerte neueste Islamdebatte in Deutschland beweist, wie schnell dieses Gebräu aus Angst und Aggression das Denken und Sprechen in der Mitte der Gesellschaft vergiften kann.
Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, so der apokalyptische Titel des Sarrazinbuches. Der sensationelle Verkaufserfolg und die Tatsache, dass bei Sarrazins Auftritten keineswegs nur die bekannte Klientel rassistischer und xenophobischer Botschaften Beifall spendet, sondern in großer Zahl auch Angehörige der gebildeten Schichten, beweist, dass die vom Autor prognostizierte baldige Übernahme Deutschlands durch sich stärker vermehrende islamische Immigranten ein gewaltiges Angstpotenzial aktiviert. Bemerkenswerte Integrationserfolge, wie sie der inzwischen emeritierte Universitätsprofessor Klaus Bade und sein Team im Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010 akribisch nachweisen, werden als »Schönrederei«, »Gutmenschentum« oder gar als bewusste »Täuschung« abgetan, ein Einwanderungsstopp für Türken oder zumindest ein Minarett-Verbot nach schweizerischem Muster als probate Mittel gegen die arglistige »Landnahme« durch die Muslime gefordert. Der von Samuel Huntington schon vor Jahren ausgerufene »Kampf der Kulturen« erscheint im allgemeinen Klima der Verunsicherung vielen als ein verzweifelter Abwehrkampf.
Die Debatte, die Sarrazin mit seinem Buch
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