Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
einer Überforderung des Selbst führt und daraus bei vielen eine Lebensangst erwächst, die sich immer häufiger in klinischen Befunden äußert. Und zwar auch bei denen, die äußerlich einen besonders selbstbewussten, ja, arroganten Eindruck machen. Denn, so Wilkinson und Pickett: »Äußerlich werden wir abgebrühter und härter angesichts der Ängste vor Statusverlust, aber innerlich – wie die Literatur zum Narzissmus zeigt – werden wir wahrscheinlich verletzlicher, empfindlicher gegenüber Kritik, weniger aufmerksam bezüglich unserer persönlichen Beziehungen und uneinsichtiger, was unsere eigenen Fehler angeht.« 23
Es ist wohl so, dass die meisten Menschen Lebenszuversicht und eine gelassene Selbstsicherheit nur entwickeln können, wenn sie nicht permanent neuen Herausforderungen und unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt sind und wenn sie in einer Gesellschaft leben, in der der andere nicht in erster Linie der Konkurrent um knappe Ressourcen oder ein Gegenstand des Neides bzw. der Verachtung ist, sondern ein Ebenbürtiger, mit dem man vertrauensvoll und auf Augenhöhe verkehren kann. Was Menschen brauchen, um halbwegs glücklich zu leben, ist ein Wechsel von Anstrengung und Ruhephasen, sind relativ stabile Sozialbeziehungen, eine Umwelt, die ihnen bei allem Wandel doch in Maßen vertraut bleibt, vor allem aber die begründete Überzeugung, dass ihr Leben – zumindest ansatzweise – planbar ist. Genau das aber ist bei immer mehr Menschen heute nicht mehr der Fall. Der globale Kapitalismus wälzt alle Lebensverhältnisse immer schneller um, reißt die Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen heraus, zwingt sie in immer kürzeren Abständen, sich neuen Bedingungen anzupassen. Und wenn sie die geforderten Anpassungsleistungen
nicht erbringen, werden sie als überflüssig ausgesondert, gelten sie, selbst wenn sie über hervorragende Qualifikationen verfügen und sich soeben noch stolz zu den Leistungsträgern zählten, nur mehr als Ballast – und fühlen sich nicht selten auch so.
Wenn gleichzeitig, wie von neoliberal inspirierten Wissenschaftlern und Politikern gefordert und von mächtigen Interessen bzw. der gigantischen Staatsverschuldung erzwungen, der Staat sich von seinen sozialen Schutzaufgaben zurückzieht und die notwendigen Ausgleichsleistungen nicht mehr erbringt, sondern seinerseits den Marginalisierten und Depravierten mit bürokratisiertem Misstrauen begegnet, wenn Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger pauschal als Trittbrettfahrer und Sozialbetrüger verdächtigt, wenn sie mit ständigen Leistungskürzungen schikaniert werden und mit Kontrollen, die sie in ihrer Menschenwürde verletzen, sind die Voraussetzungen für eine massenhafte gesellschaftliche Entwertung von Menschenleben gegeben. Bei nicht wenigen führt dies dazu, dass sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben erkennen können, dass sie sich selbst als überflüssig, als Ausschussware, als sozialen Abfall betrachten.
Wir haben es also nicht einfach mit einer objektiv feststellbaren Zunahme von Bedrohungen zu tun, sondern mit einer Doppelbewegung: Auf der einen Seite wachsen die der modernen Lebensweise inhärenten Risiken und werden durch die Sensationsberichterstattung in den Medien zu umfassenden Bedrohungen aufgebläht, tauchen mit der Nutzung der Kernkraft und der sich anbahnenden Klimakatastrophe immer häufiger Gefahren auf, die sich nicht mehr in bewährter Weise als Risiken bagatellisieren oder als Machenschaften feindlicher Kräfte externalisieren lassen. Auf der anderen Seite erodiert die subjektive Fähigkeit der Menschen, mit Risiken und Gefahren einigermaßen rational und gelassen
umzugehen. Beides zusammen hat zur Folge, dass ein Klima der Angst sich über die Gesellschaft legt, in dem die Gefahr hysterischer Reaktionen tendenziell zunimmt.
3. Kriminalität und abweichendes Verhalten
Ein Klima gelassener Zivilität kann nur entstehen und bestehen, wenn die Menschen einander vertrauen, nicht grenzenlos und in jeder Hinsicht, aber doch so weit, wie es für den alltäglichen Verkehr miteinander unerlässlich erscheint. Auch wenn wir in modernen Gesellschaften die meisten Menschen, denen wir täglich begegnen, nicht persönlich kennen, verlassen wir uns doch gewöhnlich darauf, dass sie sich in aller Regel so verhalten, wie wir es von ihnen aufgrund früherer Erfahrung oder aufgrund geltender Konventionen erwarten. Und meistens wird diese Erwartung nicht enttäuscht. Die Menschen, mit denen wir zu tun
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