Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Kriminalitätsraten insgesamt geführt. Eher spricht manches für den umgekehrten Effekt. Aber es gibt auch grundsätzliche Einwände gegen eine Politik, die vornehmlich oder gar ausschließlich auf Strafen bzw. Anreize setzt. »Verhaltenssteuerung über Strafen und Anreize lässt die Persönlichkeitsentwicklung verkümmern. Eine humane Gesellschaft setzt auf die menschliche Fähigkeit, sich von den besseren Gründen leiten zu lassen, Mitgefühl zu empfinden, Rücksicht zu nehmen und mit anderen auch dann zu kooperieren, wenn es im Einzelfall nicht im eigenen Interesse ist.« 25
Die von manchen gehegte Hoffnung, eine weitgehend homogene Kultur ließe sich durch »Law and Order«-Maßnahmen doch noch einmal herstellen, ist eine Illusion. Wir müssen uns damit abfinden, dass moderne Gesellschaften unaufhebbar pluralistisch sind. Im Alltag haben die meisten von uns ja auch durchaus gelernt, mit dieser Situation einigermaßen pragmatisch umzugehen. Allerdings muss man wissen: Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen, überhaupt ein gelassener Umgang mit Differenzen und Ambiguitäten ist nur zu erwarten, wenn die Menschen einander trotz aller Fremdheit mit einem Grundvertrauen begegnen und darauf setzen, dass auch die anderen um der gelingenden Kommunikation und Interaktion willen alles tun, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Der Rechtsstaat ist nicht mehr – aber auch nicht weniger – als
die »Ausfallbürgschaft« (Kurt Imhof ), wenn die vertrauensbasierte soziale Ordnung einmal nicht funktioniert. Wo die Vertrauensbasis – aus welchen Gründen auch immer – schwindet, wird auch abweichendes Verhalten, werden Differenzen, wird Unübersichtlichkeit vor allem als bedrohlich empfunden, wächst die Neigung, sich in vermeintlich homogenen Kollektiven abzusondern und sich Fremden gegenüber aggressiv ablehnend zu verhalten.
Wie Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrer Untersuchung zu Fragen der Gleichheit gezeigt haben, ist das Misstrauen zwischen den Menschen in Gesellschaften mit überdurchschnittlicher Ungleichheit besonders groß. Die Angst, vom anderen angegriffen, übervorteilt, hintergangen zu werden, wächst, wie sich statistisch belegen lässt, in allen Schichten, wenn die materiellen Lebensverhältnisse ungleicher werden. Dann ertönt zumeist der Ruf nach strengeren Gesetzen, mehr Polizei und strengeren Strafen besonders laut, und kaum eine Regierung kann es sich leisten, dem Ruf nicht zu folgen. Freilich heißt das noch keineswegs, dass wir uns bezüglich Mord, Körperverletzung, Raub, Diebstahl und Betrug sicherer fühlen könnten. Bei aller Einigkeit darüber, dass dies strafwürdige Verbrechen sind, und bei aller Entschlossenheit und Strenge, mit der sie verfolgt und geahndet werden, haben sie in einigen modernen Gesellschaften, allen voran in den USA, in den letzten Jahrzehnten dennoch einen bedrohlichen Umfang angenommen. Besonders wenn es um Tötungsdelikte geht, stehen die USA – zumindest in der westlichen Welt – ziemlich einsam an der Spitze. Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihrem Buch überzeugend darlegen können, dass auch hier wiederum die materielle Ungleichheit und die dadurch intensivierten Ängste vor Statusverlust den entscheidenden Unterschied ausmachen. Wenn die Entwicklung der westlichen Gesellschaften, wie dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war, auch in Zukunft zu weiter wachsender Ungleichheit
führt, muss offenbar damit gerechnet werden, dass Kapitaldelikte wie Mord und Totschlag an Häufigkeit zunehmen. Denn: »Eine große Masse empirischer Belege weist auf einen eindeutigen Zusammenhang zwischen größerer Ungleichheit und einer höheren Rate von Tötungsdelikten hin.« 26
Konformität im Verhalten ist in modernen Gesellschaften, in denen die Menschen sich selbst als Individuen verstehen, ohnehin alles andere als selbstverständlich. Sie ist unter diesen Bedingungen nur als Ergebnis komplizierter Lern- und Aushandlungsprozesse und allenfalls begrenzt auf wenige Bereiche denkbar. Aber immerhin scheint es so zu sein, dass ein hoher Grad an materieller Gleichheit die Vertrauensbasis in der Gesellschaft stärkt und damit unaggressives und gesetzeskonformes Verhalten fördert. Womit wir uns freilich abfinden müssen, ist, dass in modernen Gesellschaften Konventionen sich mit der Zeit verändern und je nach Milieu, Generation und Weltanschauungsgruppe variieren. Und dies trifft eben auch in einem gewissen Umfang zu auf das, was als
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