Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
ausgelöst hat, ist alles andere als eine Integrationsdebatte. Sarrazin träumt vielmehr den alten Traum von einem kulturell homogenen Deutschtum, dem er »die Muslime« als Inbegriff des Fremden entgegenstellt. »Die Muslime« dienen ihm als Kontrastfolie, gegen die sich so etwas wie deutsche Identität umso deutlicher abzeichnen soll. Damit bedient er bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Klarheit und Eindeutigkeit, die es in der modernen Gesellschaft – auch ohne Zuwanderung aus islamischen Ländern – nicht mehr geben kann. Entsprechend vage bleibt denn auch in der ganzen Debatte um Sarrazins Buch, was unter »deutscher Identität« oder »deutscher Leitkultur« konkret zu verstehen sei.
Das kann auch gar nicht anders sein, denn wir modernen Menschen leben schon seit Langem in Gesellschaften, die religiös, kulturell und bezüglich der Zugehörigkeit zu Klassen, Schichten und Lebensstilmilieus pluralistisch sind. Sobald wir aus dem eigenen Haus treten, spätestens wenn wir den eigenen Stadtteil verlassen, sind wir darauf vorbereitet, auf Menschen zu treffen, die anderen als den eigenen Konventionen folgen, deren Verhalten uns nicht immer auf Anhieb plausibel ist, die zuweilen Dinge tun, die uns auf den ersten Blick befremden, vielleicht gar ängstigen. Eine freie Gesellschaft kann unter modernen Bedingungen offenbar nur funktionieren, wenn sie eine hohe Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten praktiziert, ja, diese Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten gewissermaßen selbst zur Konvention erhebt. Anders ausgedrückt: Das für ein zivilisiertes Zusammenleben unerlässliche Korsett von Konventionen muss immer wieder neu austariert werden; es darf nicht so eng geschnürt, nicht so starr sein, dass es keine gelegentlichen Abweichungen oder gar grundsätzlichen Veränderungen gestattet. Vor allem muss es aber eher auf Inklusion oder Integration denn auf Ausgrenzung angelegt sein.
Wir müssen uns mit wachsender Komplexität, mit religiöser und kultureller Pluralität, mit einer Vielzahl von Lebensstilen auf engstem Raum, mit abweichendem Verhalten im vertrauten Umfeld abfinden. Wenn wir die Dinge nüchtern betrachten, müssen wir sogar einräumen, dass abweichendes Verhalten ein für die Entwicklung der modernen Gesellschaft wichtiges innovatives Potenzial darstellt und eine allzu rigide Durchsetzung konformen Verhaltens, ob durch Strafandrohung und Strafverfolgung oder durch technische Prävention, alles andere als wünschenswert wäre. Die eigentliche kulturelle Leistung, die in einer kulturell, nach Weltanschauung, Religionszugehörigkeit und Lebensstil pluralistischen Gesellschaft von jedem Einzelnen verlangt wird, liegt also darin,
dass er die eigene kulturelle Prägung insoweit relativiert, als er sie in einen weiteren konventionellen Rahmen einordnet, der ein tolerantes Umgehen mit Angehörigen anderer kultureller Prägungen ermöglicht. Um es mit den Worten Zygmunt Baumanns auszudrücken: »Zivilität ist die Fähigkeit (...), mit Fremden zu interagieren, ohne ihnen ihr Fremdsein zum Vorwurf zu machen oder sie zu nötigen, das, was sie zu Fremden macht, abzulegen oder zu verleugnen.« 24
Der konventionelle Rahmen einer modernen zivilisierten Gesellschaft wird zwangsläufig weiter sein müssen als das Konventionengerüst, das uns zumeist noch aus den Erzählungen und aus der Praxis unserer Großeltern vertraut ist. Um grenzenlose Permissivität im Sinne des anything goes , wie einige befürchten, handelt es sich aber nicht. Der hier angesprochene weitere Rahmen enthält durchaus Verbindlichkeiten. Er hat eine in der alltäglichen Praxis beglaubigte konventionelle und eine von Staats wegen sanktionierte Seite. Die Kant’sche Formel Räsoniert so viel ihr wollt, aber gehorcht – nämlich dem Gesetz – ist bis heute das Denkmodell, nach dem pluralistische Gesellschaften Meinungsfreiheit und kulturellen Eigensinn mit den Erfordernissen zivilisierten Zusammenlebens in einer Gesellschaft zusammenzubringen versuchen. Es gibt nach diesem Modell also abweichendes Verhalten, das toleriert, zu dem möglicherweise sogar ermuntert wird, und solches, das die Gesellschaft um ihrer Selbsterhaltung willen nicht tolerieren darf oder meint, nicht tolerieren zu dürfen, und das sie deshalb unter Strafe stellt. Freilich ist die saubere Trennung zwischen legitimer Abweichung und strafwürdigem Vergehen nicht immer so leicht zu leisten, wie es die kantische Formel suggeriert. Selbst im angeblich
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