Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
so liberalen Kalifornien konnte man zum Beispiel bis in die siebziger Jahre hinein noch wegen »auffälligen Verhaltens« verhaftet werden.
Dass Kriminalität grundsätzlich nicht toleriert werden darf, ist in allen Gesellschaften, die über den Status der Stammesgesellschaft mit ihrer Partikularethik hinausgekommen sind, Konsens, keineswegs aber immer, was als kriminell zu gelten hat und was nicht. Zwar herrscht über kulturelle Unterschiede hinweg weltweit weitgehende Einigkeit darüber, dass Mord, Körperverletzung, Betrug, Diebstahl und Raub strafwürdige Verbrechen sind, die nicht geduldet werden dürfen; solange wir uns auf diese Phänomene beschränken, können wir als rechtschaffene Bürger in der Tat immer noch eine klare Scheidelinie zu den Gesetzesbrechern ziehen. Aber wenn wir in die Details gehen, ist auch hier die Einigkeit sehr schnell vorbei. In demokratischen Gesellschaften gab und gibt es häufig öffentlich ausgetragenen Streit darüber, was schon als kriminell zu gelten hat und was noch erlaubt sein sollte. Auch dann, wenn man grundsätzlich darin übereinstimmt, dass Freiheit, die mehr sein soll als individuelle Willkür auf Kosten anderer, nur als institutionalisierte Freiheit, dass Freiheit, die für alle Mitglieder eines Gemeinwesens gleichermaßen gelten soll, nur unter dem Gesetz, d. h. nur in einem sanktionierten Ordnungsrahmen möglich ist.
Der erbitterte Streit um die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist ein solches Beispiel, desgleichen die immer noch nicht ganz ausgestandenen Auseinandersetzungen um die Abtreibung und um die erst 1994 vom Bundestag beschlossene Abschaffung des § 175 StGB sowie die Legalisierung der Homo-Ehe. Alle diese Konflikte sind innerkulturelle Konflikte der westlichen Gesellschaften, haben also nichts mit der Einwanderung von Menschen anderer Religion und Kultur zu tun. Dazu kommen Konflikte, die aus dem Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Entwicklungsstadien in unserer Gesellschaft herrühren. Da Menschen, die aus traditionalen islamischen Gesellschaften zu uns kommen, zuweilen die Zwangsverheiratung oder die Klitorisbeschneidung
als eine in ihrer Kultur geltende Konvention und nicht als kriminellen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht einer jungen Frau betrachten, sehen sie in der Strafverfolgung in solchen Fällen oft einen illegitimen Angriff auf ihre Kultur, während Deutsche dies in aller Regel als notwendige Maßnahme zur Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Frau werten.
In den zuletzt genannten Fällen geben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das geltende Recht in allen westlichen Gesellschaften eine klare pragmatische Orientierung. Nicht wenige Menschen schließen daraus, dass eine Präzisierung und Ausweitung der Rechtsvorschriften, eine Intensivierung der Strafverfolgung und eine Verschärfung der Strafen der einzige Erfolg versprechende Weg sei, um abweichendes Verhalten und Kriminalität einzudämmen und so zu mehr Sicherheit zu gelangen. Freilich zeigt sich immer wieder, dass die Dinge so einfach nicht sind. Intensivere Strafverfolgung und schärfere Strafen mögen abschreckend wirken, wenn es sich bei den Straftaten um gemeinschaftsschädliche Vorteilskalküle handelt wie z. B. bei Steuerhinterziehung und anderen Formen von Wirtschaftskriminalität. Es gibt aber keine überzeugenden Belege dafür, dass auf diese Weise auch die Zahl der Kapitalverbrechen, insbesondere der Trieb- und Affekttaten, reduziert werden könnte. Erst recht trifft dies für jene »Mörder mit gutem Gewissen zu«, von denen Albert Camus in seinem Essay Der Mensch in der Revolte spricht, jenen Fanatikern und wahnhaften Überzeugungstätern, die Ideologien folgen, die, wie Camus sich ausdrückt, »aus Mördern Richter machen«. Ein Osama bin Laden oder ein Anders Behring Breivik sind durch keine noch so rigide Strafandrohung zu beeindrucken.
In den USA glauben dennoch auch heute noch viele Menschen an die vermeintlich wissenschaftlich belegte Behauptung,
die der Ökonom Isaac Ehrlich 1975 verbreitete, dass jede Exekution acht Morde verhindere. Dabei haben neuere Untersuchungen längst gezeigt, dass gerade bei Tötungsdelikten von einer wirksamen Abschreckung durch die Todesstrafe keine Rede sein kann. Auch längere Haftstrafen, wie sie in den letzten Jahrzehnten vor allem in den USA und in Großbritannien eingeführt wurden, haben dort nachweislich nicht zu einer Reduzierung der Kapitalverbrechen und der
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