Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
eben nicht um ein Entweder-oder, sondern eher um das rechte Maß. Und zum Maßhalten gehört sicher auch, dass man nicht den ganzen Tag am Computer oder vor dem Fernseher sitzt und Fast Food in sich hineinstopft, bis man so übergewichtig ist, dass man sich nur noch mühsam auf die Toilette schleppen kann. Allerdings gehört dazu auch, dass man sich nicht alle Genüsse versagt und seinem Körper nicht Dinge abverlangt, die er nur unter Qualen zu leisten vermag. Diese an sich nicht allzu komplizierte Einsicht ist heute aber nicht leicht zu vermitteln. Denn nichts fällt dem modernen Menschen schwerer, als sich mit den zumeist wenig spektakulären Grundtatsachen des Lebens abzufinden.
Während in der Unterschicht der Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger Verwahrlosung sich oft auch in der gröbsten Vernachlässigung des Körpers zeigt, scheinen viele Menschen in den mittleren und oberen Schichten heute ihren Körper als eine Maschine zu betrachten, die bei richtiger Wartung ständig Höchstleistungen erbringen müsse, und sind bei geringstem Leistungsabfall entsprechend alarmiert. Immer raffiniertere Ersatzteile sollen den Verschleiß aufhalten, immer ausgeklügeltere Therapien jede vorübergehende Funktionsstörung beheben. Neuerdings kann man auf dem Smartphone mit Hilfe sogenannter Apps und winziger Datenchips, die verschluckt werden, die eigenen Herzfrequenzen, Schlafrhythmen, Blutwerte und Menstruationszyklen kontinuierlich erfassen und
als Self-Tracker anhand der gesammelten Daten jeder sich andeutenden Funktionsstörung, jedem noch so kleinen Fortschritt in der Fitness oder beim Abnehmen auf die Spur kommen – eine Methode, von der ihre Propagandisten behaupten, dass sie ein verlässlich objektives, weil quantifiziertes Bild des eigenen Selbst liefere. Und natürlich ist das Bild des Selbst, das uns auf diese Weise geliefert wird, nie völlig makellos, stets der Optimierung bedürftig.
»Einer therapiesüchtigen Gesellschaft«, schreibt Werner Bartens in der Süddeutschen Zeitung vom 16./17. Juli 2011, »bietet eine boomende Befindlichkeitsindustrie Leiden und Leidensablass für jede Lebenslage. Pharmafirmen im Verein mit geschäftstüchtigen Ärzten helfen, Lebensläufe von der Wiege bis zur Bahre zu pathologisieren und die Menschen krankzureden.« Nicht nur, dass wir in immer kürzeren Abständen von neuen Epidemien heimgesucht werden, die uns eine Zeitlang in Atem halten, bis sie von der nächsten verdrängt werden: BSE, SARS, Vogel- und Schweinegrippe, EHEC ... Nun warnt auch noch ein US-Forscherteam um Drew Harvell und Andrew Dobson von der Cornell University davor, dass mit der Erderwärmung voraussichtlich auch die Zahl der Infektionskrankheiten weiter steigen werde, vor allem die, die von Insekten übertragen würden. Vermutlich wird das die Hysterie bezüglich möglicher Ansteckung und parallel dazu die Angebote zur prophylaktischen Therapie noch üppiger ins Kraut schießen lassen. Wer sich in Zukunft wirksam schützen will, so die Botschaft, wird noch sorgfältiger auswählen müssen, was er trinkt und was er isst, wird sich nach Möglichkeit von Menschenansammlungen fernhalten, sich regelmäßig untersuchen und am besten vorbeugend behandeln lassen.
Nicht nur mit der Krankheit, auch mit der Angst vor Krankheit lassen sich hervorragende Geschäfte machen. Wer an keiner Krankheit leidet, dem kann man immerhin suggerieren,
dass er zu dieser oder jener Krankheit neige und deshalb dringend vorbeugen müsse. Wer noch keinen Diabetes hat, ist vielleicht ein Fall von Prä-Diabetes , wer noch einen normalen Blutdruck hat, ein Fall von Prä-Hypertonie , wer keinerlei Anzeichen von Altersdemenz aufweist, kann dennoch wegen Prä-Demenz behandelt werden. Wer lebt und sich bester Gesundheit erfreut, ist nach dieser Logik ein Noch-nicht-Toter. Natürlich geht es immer auch darum, den teuren Maschinenpark in den Arztpraxen und Kliniken auszulasten. »Von Hunderttausenden, die jedes Jahr in Deutschland mit Herzkathetern untersucht und behandelt werden, hätte nur jeder Vierte den Eingriff tatsächlich nötig. Bis zu 80 Prozent der Kernspin-Aufnahmen bei Knie- und Rückenschmerzen sind überflüssig, bei Blutuntersuchungen ist es ebenso.« 44
Trotz aller Fortschritte der modernen Medizin ist es noch immer nicht gelungen, und es wird wohl auch nie gelingen, die Krankheit auszumerzen. Einige Krankheiten haben inzwischen ihren Schrecken verloren (die Pest, Skorbut, Diphterie, Pocken ...), dafür
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