Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
gleichen Zeit junge und jung bleiben wollende Menschen, um nackt in der freien Natur die Erde zu bearbeiten und sich vegetarisch zu ernähren. Lebensreform hieß das Stichwort, das sich eine Bewegung gab, die die Fesseln und Gewohnheiten einer alt gewordenen Welt abschütteln wollte und die ewige Jugend zum Ideal erhob.
Freilich erweist sich bei näherer Betrachtung, worauf Hartmut Rosa in seiner Untersuchung zur Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne hingewiesen hat, 45 dass die Höherbewertung der Jugendlichkeit und damit einhergehend die Abwertung des Alters eng mit der Beschleunigung von innovativen Prozessen in der modernen Gesellschaft verknüpft ist. »Der im Alter drohende Verlust der Offenheit und Flexibilität ist in einer Gesellschaft mit hohen Veränderungsraten ein stigmatisierendes Handicap, wie sich etwa in jenen Berufsbranchen zeigt, in denen schon Vierzigjährige nicht mehr eingestellt werden, weil sie als nicht flexibel und risikofreudig genug erscheinen.« 46 Die Sicht auf das Alter hat sich in der modernen Gesellschaft dadurch dramatisch verändert. »Das Idealbild älterer Menschen ist nicht mehr das des ›weisen Alten‹, sondern das des immer noch flexiblen, wandlungsfähigen Nicht-wirklich-Alten , der sich vor der aktiven Anverwandlung des Neuen nicht scheut. Der Zwang zur Jugendlichkeit oder geradewegs zur ›ewigen Pubertät‹ entstammt nicht einer kulturellen Laune der spätmodernen Gesellschaft, sondern ist ihren Temporalstrukturen unaufhebbar eingeschrieben.« 47
Es scheint, dass unsere moderne Gesellschaft mit ihrer im Gegensatz zu früheren Epochen extrem hohen Bewertung der Jugendlichkeit und ihrer Verleugnung der Endlichkeit zwangsläufig auch der Gesundheit und der gesunden Lebensführung einen immer größeren Stellenwert einräumen muss. Wenn das gesellschaftliche Prestige und der berufliche Erfolg, jedenfalls in der Mittel- und Oberschicht, wesentlich davon abhängen, dass man jung, faltenfrei und dynamisch ist oder zumindest so erscheint, dann müssen Krankheit, nachlassende Fitness und Alter zwangsläufig als existenzielle Bedrohung
empfunden werden. Wenn zudem, worauf Zygmunt Baumann hinweist, in einer Welt des rasenden Wandels der eigene Körper das Beständigste ist, an das man sich halten kann, könnte dies ein weiterer Grund sein, dem Körper und seiner Gesundheit eine geradezu manische Aufmerksamkeit zu widmen. »Der Körper«, schreibt Baumann, »ist gleichsam zum Rückzugsgebiet von Kontinuität und Langlebigkeit geworden. (...) Hier liegt die letzte Verteidigungslinie der Sicherheit, und die ist dem dauernden Beschuss feindlicher Kräfte ausgesetzt; die letzte Oase inmitten windgepeitschter Wanderdünen. Daher rührt der Körperwahn, die Besorgnis um den Körper und seine Verteidigung. Die Grenze zwischen Körper und Außenwelt ist mit die am schärfsten bewachte unserer Welt. Aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit heraus sind die Öffnungen des Körpers (als Eintrittspunkte) und seine Oberfläche (als Kontaktregion) zu Brennpunkten panischer Angst geworden.« 48
Das Merkwürdige ist nun aber, dass die Maßnahmen, die die verängstigten Menschen heute ergreifen, um Krankheiten abzuwehren, ihre Leistungskraft zu erhalten und das Altern nach Möglichkeit hinauszuzögern, immer seltener auf liebevolle Pflege und Schonung des eigenen Körpers und der eigenen Seele, dafür immer häufiger auf Selbstdisziplinierung, Verzicht und Askese hinauslaufen. Es ist dieser puritanische Zug, der dem Bemühen um die eigene Gesundheit oft etwas verbissen Lebensfeindliches gibt. Roger Scruton hat diese sauertöpfischen puritanischen Gesundheitsapostel im Sinn, wenn er in seiner Philosophie des Weins schreibt: »Meiner Meinung nach sollte man die Gesundheitsapostel, die uns die natürliche Freude an allen guten Dingen vergiftet haben, irgendwo zusammen einsperren. Dort können sie sich dann gegenseitig zu Tode langweilen und ihre wirkungslosen Patentlösungen
fürs ewige Leben anpreisen.« 49 Es ist in der Tat kaum zu übersehen, dass Menschen, die besonders akribisch auf ihre Gesundheit achten, oft bedrückt und überanstrengt wirken, ihre Mitmenschen allzu oft mit ihren Ratschlägen nerven und selten Lebensfreude ausstrahlen. Vor allem aber ist, aller Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen Körper zum Trotz, bei den meisten Menschen das Verhältnis zwischen dem Ich und seinem Körper keineswegs intimer, schon gar nicht freundschaftlicher geworden. Zwar ist für den
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