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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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sind neue dazugekommen: AIDS, Kreislauferkrankungen, Burnout ... Zuweilen kehren auch bereits besiegt geglaubte Krankheiten wieder: Tuberkulose, Masern, Windpocken ... Und immer häufiger tauchen in letzter Zeit in Krankenhäusern resistente Keime auf, gegen die kein Kraut gewachsen scheint. Offenbar gilt auch für das Gesundheitswesen, was für andere Tätigkeitsfelder des Menschen gilt: Unsere Bäume wachsen nicht in den Himmel. Andererseits sind die Gefahren für unsere Gesundheit, nüchtern betrachtet, heute geringer denn je. Den größten Anteil daran dürften die Verbesserungen bei der Ernährung, der Hygiene und im Wohnkomfort haben. Aber die insgesamt eher erfreulichen, zumindest aber undramatischen Fakten können uns offenbar nicht beruhigen. Wir leben in ständiger Alarmbereitschaft, was unsere und unserer
Kinder Gesundheit angeht, und greifen dabei nicht selten zu Vorkehrungen, die absurde Konsequenzen haben. Vor allem in den Mittelschichthaushalten werden die zahlreichen Einzelkinder oft allzu ängstlich behütet und umsorgt. Wenn Sechs-oder Siebenjährige in der Schule nach einer halben Stunde still sitzend verfolgtem Unterricht aus natürlichem Bewegungsdrang anfangen zu zappeln oder in der Klasse herumzulaufen, bescheinigen wir ihnen eine krankhafte Hyperaktivität oder eine nicht minder krankhafte Konzentrationsstörung und schicken sie in ärztliche Behandlung. Vor lauter Angst, dass unseren Kleinen beim Spielen etwas zustoßen könnte, dass sie sich ein Bein brechen oder sich eine Hautabschürfung zuziehen könnten, gestalten wir Spielplätze so sicher, dass die Kinder nicht mehr spielend lernen können, am Klettergerüst ihre Geschicklichkeit zu schulen und so schrittweise ihre Angst zu überwinden. Ein Team um Ellen Sandseter vom Queen Maud University College in Trondheim warnt mittlerweile in einer Studie vor allzu sicheren Spielplätzen: Diese könnten das Risiko für Kinder erhöhen, später eine krankhafte Phobie zu entwickeln. Ähnliche Warnungen sind aus den USA zu hören.
     
    Natürlich hängt die geradezu manische Präokkupation mit Fragen der Gesundheit auch damit zusammen, dass sich an der Krankheit und an der Sorge um die Gesundheit so viel Geld verdienen lässt. Der medizinisch-industrielle Komplex, die mächtige Pharmaindustrie und eine bunte und wachsende Schar von Therapeuten schüren nicht selten die Angst, weil verängstigte Eltern und Dauerpatienten bereitwillig alle Produkte und Dienstleistungen kaufen, die ihnen und ihren Kindern Gesundheit, Leistungskraft und Schönheit versprechen. Und wer gut versichert ist, mag sich sogar einbilden, im eigenen Interesse vernünftig zu handeln, wenn er alles, was bei Ärzten, Therapeuten und bei der Pharmaindustrie im Angebot ist, ausprobiert, um so möglichst viel von den hohen Versicherungsbeiträgen wieder hereinzuholen.

     
    Dennoch: Es wäre ein Irrtum, die exzessive Sorge um die eigene Gesundheit allein oder in erster Linie auf die interessengeleitete Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch den medizinisch-industriellen Komplex zurückzuführen. Sicher spielt sie eine nicht unwichtige Rolle, aber letztlich kann sie nur Einstellungen und Trends verstärken, für die es in der Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer, schon eine Prädisposition gibt. Dass der moderne Gesundheitswahn nicht nur das Produkt ökonomischer Interessen ist, sich im Gegenteil durchaus gegen massive ökonomische Interessen durchsetzen kann, sieht man allein schon daran, dass zum Beispiel die Kampagne gegen das Rauchen trotz der massiven Gegenwehr der großen Tabakkonzerne, trotz der vielen Milliarden für Werbung und Lobbyarbeit, die dieser Industriezweig auch heute noch jährlich ausgibt, seit einigen Jahren überaus erfolgreich ist.
     
    Um zu verstehen, aus welchen Quellen sich der moderne Gesundheitswahn speist, muss man sich den geschichtlichen Werdegang der Gesundheitsbewegung vor Augen halten. Sie betrat, nach den noch auf einen kleinen Kreis von Reichen beschränkten Anfängen in der Bäderbewegung, zum ersten Mal Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und in den USA spektakulär die Bühne, und zwar nicht zufällig gemeinsam mit der Jugendbewegung. In den USA propagierte ein Herr Kellogg den Verzehr der von ihm erfundenen Cornflakes, ein Herr Fletcher bereiste die Welt, um zu verkünden, dass man, um der Gesundheit willen, unbedingt jeden Bissen im Munde zweiunddreißigmal kauen müsse. Auf dem Monte Verità bei Ascona trafen sich zur

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