Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
die fälligen Schlussfolgerung gezogen und sich zu einer gemeinsamen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aufraffen können, die allein die Voraussetzungen für mehr Sicherheit schaffen könnte.
Wenn jeder, auf sich allein gestellt, das für ein halbwegs angstfreies Leben notwendige Maß an Sicherheit herstellen muss, sind die meisten Menschen hoffnungslos überfordert. Zwar werden sie, wie dies ja auch aus den Jugenduntersuchungen hervorgeht, mangels anderer Möglichkeiten verstärkt den Schutz kleiner Gemeinschaften suchen. Doch solche Freundschaftsverbände können in unserer modernen Welt mit ihrem
hohen Maß an Interdependenz und ihren gesteigerten Mobilitätsanforderungen allzu oft gerade das nicht leisten, was heute am wichtigsten ist: unter schnell wechselnden Bedingungen ein Minimum an Planbarkeit des Lebens zu garantieren. Wenn ihnen der Schutz des Sozialstaates entzogen wird, werden die Inseln des Privaten und des Kleingemeinschaftlichen allzu oft zu Zonen der Verelendung und Verwahrlosung.
Überall in Europa, so sieht es jedenfalls aus, greifen heute Angst und Unsicherheit um sich, übrigens auch – besonders deutlich seit dem 11. September 2001 und erst recht nach der Finanzkrise – in den USA, wo man sich traditionell so gern über die German Angst oder den Europessimismus mokiert. Es ist ein diffuses Gefühl des Bedrohtseins, in dem sich die Angst vor sozialem Abstieg mit der vor Kriminalität, terroristischen Anschlägen und der wachsenden Macht Chinas und anderer Schwellenländer vermischt. Auf diese Weise wird aus identifizierbaren und abgrenzbaren Gefahren eine unheimliche, unidentifizierbare Bedrohung. Wie sehr davon unser Denken beherrscht wird, zeigt sich an der Tatsache, dass sie sogar in offiziellen Memoranden der NATO ihren Niederschlag findet. In einem Strategiepapier unter dem Titel Towards a Grand Strategy for an Uncertain World , verfasst im Auftrag des Bündnisses von fünf ehemaligen Generälen, wird ganz im Sinne dieser diffusen Angststimmung eine umfassende und nicht identifizierbare Bedrohung evoziert: »Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein, was sich nicht vorhersagen lässt.« 40
Während wir uns auf Gefahren vorbereiten, die keiner kennt und keiner kennen kann, vernachlässigen wir bedrohliche Entwicklungen, die klar zutage liegen. Es wird heute kaum mehr bezweifelt, dass die durch die neoliberale Revolution
bewirkte Deregulierung aller Sozialverhältnisse ganz wesentlich zur Verunsicherung der Menschen beigetragen hat. Sie hat nicht nur vielen Menschen die Möglichkeit genommen, ihr Leben einigermaßen zuverlässig zu planen. Sie hat auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich drastisch vergrößert und damit im unteren Drittel der Gesellschaft Resignation und Apathie erzeugt, während in den oberen zwei Dritteln die Statuskonkurrenz an Härte noch einmal beträchtlich zunahm. Inzwischen hat sich auch das große Fortschrittsversprechen, das mit diesem Prozess verbunden war, nämlich höhere Wachstumsraten und beschleunigte Innovation und als Folge davon mehr Wohlstand für alle, als trügerisch erwiesen. Die hohen Wachstumsraten stellen sich allen Anstrengungen zum Trotz nicht ein, die zuweilen als ökologisches Ei des Kolumbus angepriesene Dematerialisierung des Wachstums durch die Verlagerung von der Realwirtschaft zur Finanzwirtschaft ist ein Flop, und die Beschleunigung der Innovation erweist sich als Quelle neuer kaum beherrschbarer Risiken, weil für so etwas wie Technikfolgenabschätzung gar keine Zeit mehr bleibt. Dagegen geht die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen ungebremst weiter, nimmt die Armut schnell weiter zu.
Die erste Reaktion unseres Zivilisationstyps auf Verunsicherung ist immer die Suche nach technischen Lösungen. Wenn mit der Kluft zwischen Arm und Reich auch die Kriminalität steigt, versuchen wir uns selbst und unser Hab und Gut mit aufwendiger Sicherungstechnik zu schützen, besuchen einen Kurs in Selbstverteidigung oder schaffen uns, sofern wir uns das leisten können, einen Bodyguard an. Wenn uns angesichts der immer härter werdenden Statuskonkurrenz Versagensangst befällt, gehen wir zum Psychiater, schlucken Antidepressiva oder vertrauen uns einem der zahlreichen Gurus an, die uns mit positivem Denken zum Erfolg zu führen versprechen. Was wir dabei übersehen, ist, dass Sicherheit in
erster Linie ein soziales und erst in zweiter Linie ein technisches Problem
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