Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
modernen Menschen der Körper nicht mehr wie für den mittelalterlichen Menschen ein Symbol der Vergänglichkeit, in der drastischen Sprache der Bußprediger ein »Madensack«, sondern eher eine letzte verzweifelte Zuflucht auf der Suche nach Beständigkeit. Aber Misstrauen, so scheint es, bleibt angebracht, verlassen kann man sich auf den eigenen Körper nicht. Vor allem sollte man ihm gegenüber nicht allzu nachsichtig sein. Am besten man behandelt ihn wie ein störrisches Reitpferd, das ständig mit Peitschenschlägen angetrieben werden muss.
Es ist kaum zu übersehen, dass der Gesundheitswahn im protestantischen Nordamerika und Nordeuropa verbreiteter ist als im katholisch geprägten Süden. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die modernen Gesundheitsfanatiker ähnlich den Geißlern in der Zeit der Kreuzzüge sich mit ihren Verzichtleistungen und ihrer strikten Disziplin für eine Schuld bestrafen, für die ihnen, weil sie keine mediterranen Katholiken sind, die weniger strapaziöse Methode der Schuldbewältigung mittels Beichte, Absolution und einer durch Gebete abzuleistenden Buße nicht zur Verfügung steht. Natürlich würden die meisten derer, die heute so verbissen an ihrer Fitness arbeiten, eine solche Deutung nicht gelten lassen und lauter rationale Gründe für ihr Verhalten anführen. Aber das ändert nichts daran, dass sich solche geschichtlichen
Parallelen bei genauerer Betrachtung aufdrängen. So auch die zum 17. Jahrhundert, als der Puritanismus eine Welle der Lebens- und Lustfeindlichkeit auslöste. Die Angst freilich kann mit Verzicht und Bestrafung nicht erfolgreich bekämpft werden. Vielmehr scheinen das Übermaß an Selbstdisziplinierung und die ängstliche Vermeidung jedes unbeschwerten Lebensgenusses zu den tieferen Ursachen für die auffällige Zunahme von Angstzuständen und depressiven Erkrankungen zu gehören.
Auch hier waltet wieder jene merkwürdige Dialektik, die wir auch schon im Zusammenhang mit dem modischen positiven Denken erwähnten. So wie positives Denken oftmals krank macht, kann auch die allzu akribische Befassung mit der eigenen Gesundheit krank machen. Am offensichtlichsten ist dies, wenn ältere Menschen glauben, um ihrer Gesundheit willen exzessiv Sport treiben, womöglich an einem der vielen Marathonläufe, die Jahr für Jahr in unseren Städten veranstaltet werden, teilnehmen zu müssen. Überanstrengung, Verschleiß von Bändern, Sehnen und Muskeln sowie bleibende organische Schäden sind nicht selten die Folge. Auch ist inzwischen die Zahl der Sportunfälle größer, als zumeist angenommen wird. Wenn man Midas Dekkers glauben kann, übersteigen sie in den Niederlanden bereits die Zahl der Verkehrsunfälle.
Vita brevis – das Leben ist kurz. Die antiken Philosophen, die diese schlichte Erkenntnis zum Ausgangspunkt ihres Philosophierens nahmen, verbanden damit zumeist die Aufforderung, das Leben sinnvoll zu nutzen und zu genießen. Es ist ein Merkmal unserer wissenschaftlich-technischen Kultur, dass wir uns mit diesem vita brevis nicht mehr abfinden können. Schon träumen Biowissenschaftler in ihren Laboren davon, mittels genetischer Manipulation Menschen heranzuzüchten, die einhundertfünfzig, vielleicht einmal zweihundert Jahre alt werden. Sogenannte Transhumanisten wie die englischen Biowissenschaftler
Max More, Nick Bostrom und John Harris glauben gar, die »schreckliche Tatsache des Todes« eines Tages ganz aus der Welt schaffen zu können. Lebensverlängerung um fast jeden Preis ist das Ziel, und in der Tat sind wir damit schon recht weit gekommen, wie sich an der gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung ablesen lässt. Aber einen immer größeren Anteil unseres verlängerten Lebens bringen wir ironischerweise mit disziplinierten und disziplinierenden Aktivitäten zu, die keinem anderen Zweck dienen sollen, als uns gesund zu erhalten und unser Leben zu verlängern. Dabei gerät allzu leicht aus dem Blick, was das Leben lebenswert macht. Offenbar werden wir auch auf diesem Feld Opfer jener merkwürdigen Verkehrung von Mitteln in Zwecke, die für die Moderne charakteristisch ist. Wie in unserer Kultur oft das Geld nicht mehr ein Mittel zum Kauf begehrter Güter ist, sondern zum Selbstzweck wird, für dessen Anhäufung wir unser ganzes Leben der striktesten Disziplin unterwerfen, so tendieren auch die Übungen und Verzichtleistungen, die wir uns um eines langen Lebens willen meinen auferlegen zu müssen, dazu, die Frage
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