Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, stürzt der Zeppelin Hindenburg in New York brennend ab. Auch das ein Menetekel? Viele andere Bilder und Daten von Katastrophen haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Am 28. Februar 1986 verglüht das Spaceshuttle Challenger und mit ihm die sechsköpfige Besatzung, am 3. Juni 1998 bringt ein gebrochener Radreifen bei Eschede einen ICE zum Entgleisen und am 23. Juni 2011 stürzt in China ein Hochgeschwindigkeitszug von einer Brücke. Jährlich sterben im Straßenverkehr 1,2 Millionen Menschen; seit der Erfindung des Automobils sind es insgesamt ca. 50 Millionen. Angeblich absolut sichere Kernkraftwerke explodieren in Three Mile Island, in Tschernobyl, in Fukushima. In der modernen Medienwelt erleben wir alle diese Katastrophen hautnah mit, die Bilder besetzen unsere Fantasie, sind ständig abrufbar, verbinden sich mit anderen Bildern und Schreckensmeldungen.
Weil die meisten Menschen keine klare Vorstellung davon haben, wie wir anders leben könnten, friedlicher, ökologisch vernünftiger, sozial gerechter und dennoch oder auch gerade
deswegen glücklicher und erfüllter, weil sie, wenn sie eine Vorstellung von einem anderen Leben haben, in aller Regel nicht daran glauben, dass sich diese angesichts der Schwerkraft unserer Gewohnheiten und der mächtigen Interessen, die mit der bisherigen Lebensweise verbunden sind, durchsetzen ließe, können sie sich nicht zu erlösendem Handeln entschließen, verlieren am Ende gar die Lebenszuversicht, verfallen in Schwermut oder werden zynisch. Vor uns, das ist die zumeist unausgesprochene Überzeugung vieler Menschen, vielleicht der Mehrheit, liegt eine lange Periode des Niedergangs, der harten Verteilungskämpfe und der Ressourcenkriege, des Verzichts und der Freiheitsbeschränkung. Auch wenn man entschlossen ist, um seinen eigenen Anteil am kleiner werdenden Kuchen mit Zähnen und Klauen zu kämpfen – froh wird man in dieser Perspektive nicht.
8. Macht Freiheit Angst?
Die Platzangst , die Angst, den schützenden Schatten der Kolonnaden oder des Torbogens zu verlassen, auf den offen einsehbaren Platz zu treten und sich neugierigen, womöglich feindlichen Blicken auszusetzen, führen einige Anthropologen auf die Urangst zurück, die unsere frühen Vorfahren im ostafrikanischen Grabenbruch empfanden, als sie sich anschickten, den schützenden Wald zu verlassen, um in der offenen Savanne zu jagen. Wer heute Platzangst hat, hat meist nicht so handfeste Gründe für das ihn beherrschende Gefühl wie unsere Ahnen in Ostafrika. Denn in aller Regel lauern auf offenen Plätzen in unseren Städten keine gefährlichen Säbelzahntiger, und dass man erschossen wird, sobald man die Deckung verlässt und ins Freie tritt, ist – zumindest in der Mitte Europas – auch nicht sehr wahrscheinlich. Platzangst betrachten wir heute gemeinhin als eine Krankheit der Seele, und verweisen die unter ihr Leidenden an den Psychotherapeuten.
Aber möglicherweise ist die Platzangst nur ein Sonderfall einer viel verbreiteteren, Beklommenheit auslösenden Befindlichkeit, die bei den meisten Menschen in unterschiedlichen Graden auftritt, wenn sie den Schritt ins Offene wagen. Wenn Freud und Erich Fromm recht haben, ist das Geburtstrauma, das Hinaustreten aus der Mutterhöhle, die Quelle der Urangst, auf die alle späteren Ängste zurückzuführen sind, auch und gerade die Furcht vor der Freiheit , über die Erich Fromm 1993 geschrieben hat. Man muss diese Theorie der Urangst nicht teilen, und tatsächlich ist sie unter Psychologen ja auch umstritten. Aber dass das Hinaustreten ins Leben, dass Emanzipation und die Übernahme von Verantwortung auch immer mit Angst verbunden sind, ist wohl nicht zu leugnen.
Freiheit heißt der Lockruf der Moderne, dem heute, wie überall auf der Welt zu beobachten ist, nur wenige auf Dauer widerstehen können, gegen den die Warnungen von Eltern, Lehrern, Vorgesetzten, Priestern, Mullahs und Potentaten in aller Regel wenig auszurichten vermögen, obwohl wir reichlich Erfahrungen damit haben, wie strapaziös die Freiheit sein kann und wie oft sich die damit verbundenen Hoffnungen nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang erfüllen. Weil der Ruf der Freiheit so unwiderstehlich ist, verlassen sich ihre Gegner, die selbst ernannten Vormünder und Diktatoren, auch lieber auf Verbote, Einschüchterung und Zwangsmaßnahmen als auf ihre angeblich so triftigen Argumente für eine hierarchische Ordnung, bei der
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