Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Verantwortung nicht gewachsen ist. Wahrscheinlich wären die meisten Menschen froh, wenn unsere Kultur das Wissen um diese Möglichkeit nie hervorgebracht hätte. Aber was, wenn sich herausstellte, dass mit den hier gewonnenen Erkenntnissen tatsächlich schwere Erkrankungen und Behinderungen vermieden werden könnten, wie von interessierter Seite behauptet wird? Wer von uns würde dann freiwillig auf ihre Inanspruchnahme verzichten? Und würden wir, wenn wir uns tatsächlich dem hier möglichen Fortschritt verweigerten, nicht in ein neues moralisches Dilemma geraten, weil wir Leid, das zu verhindern gewesen wäre, nicht verhinderten?
Nicht zu tun, was wir können, das fällt uns modernen Menschen am schwersten. Sobald unsere wissenschaftliche Neugier und unser Machtstreben eine neue technische Möglichkeit hervorgebracht haben, tendiert diese dazu, sich von einer Möglichkeit zu einem Muss zu entwickeln. Weil wir verhindern können, dass ein behindertes Kind auf die Welt kommt, fühlen wir uns verpflichtet , vorbeugend einzugreifen, wenn uns eine entsprechende Diagnose gestellt wird, selbst dann, wenn wir eigentlich nicht von der Weisheit eines solchen Handelns überzeugt sind. Schließlich, so sagen wir uns beschwichtigend, können wir so Leid verhindern und uns selbst und der Gesellschaft eine Menge Kosten ersparen. Wenn die Börsen in
New York, London oder Singapur die neuen digitalen Möglichkeiten des Flash Trading und des Derivathandels nutzen, müssen wir es in Frankfurt und an jedem anderen Börsenstandort auch tun, um im Wettbewerb bestehen zu können, auch wenn wir ahnen, dass damit im Weltfinanzmarkt ein chaotischer Prozess in Gang gesetzt wird, der fast zwangsläufig in die Katastrophe führen muss.
Wer sich trotz schwerer Bedenken mit den neuen Möglichkeiten arrangiert, wird im Nachhinein oft mehr oder weniger gute Gründe finden, um sein Tun vor sich selbst und vor anderen zu legitimieren. So werden nicht selten aus Zwangsverpflichteten scheinbar überzeugte Anhänger der gefährlichen neuen Techniken. Oder man erklärt sich einfach für nicht zuständig und blendet die eigene Verantwortung aus, konzentriert sich ganz auf sich selbst, die eigene Familie, den eigenen Beruf, das eigene Fortkommen. Die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts rasant zunehmende Ich-Bezogenheit bei gleichzeitiger Verarmung der sozialen Beziehungen interpretiert Martin Wangh als den – vergeblichen – Versuch, angesichts einer nicht zu verantwortenden Gesamtentwicklung den Kreis menschlicher Verantwortung so radikal zu begrenzen, dass Fragen nach dem Sinn und der moralischen Zulässigkeit riskanter technologischer Großprojekte nach Möglichkeit ausgeblendet werden. Aber, so Wang, die Ängste, die wir verdrängen, holen uns zumeist wieder ein, und als Stirner’sche Einzelne sind wir ihnen erst recht hilflos ausgeliefert. 53
Horst Eberhard Richter hat schon Ende der siebziger Jahre in seinem Buch Der Gotteskomplex die Entwicklung der modernen Gesellschaft als eine »neurotische Flucht aus narzisstischer Ohnmacht in die Illusion narzisstischer Allmacht«
beschrieben. 54 Für ihn kommt dieser Prozess einer »neurotischen Überkompensation« am Ende des Mittelalters in Gang, als die Menschen sich mehr und mehr aus der Geborgenheit der Gotteskindschaft zu lösen und sich als eigenverantwortliche Individuen zu begreifen beginnen. Der virtuoso , der stolz und eigenmächtig alle Fesseln der Tradition abstreifende, von wissenschaftlicher Neugier und prometheischem Schöpferdrang getriebene Renaissancemensch, ist eine frühe Verkörperung dieser angstgetriebenen Selbstermächtigung. Von nun an geht es um die Beherrschung der Natur, um möglichst vollständige Kontrolle – auch der eigenen Emotionen und Triebe. Schwäche ist peinlich, sie wird überspielt und verdrängt oder schlägt um in Grandiositätsfantasien, vergleichbar mit Nietzsches Vorstellung vom »Übermenschen«, die heute in der von Biowissenschaftlern genährten Hoffnung auf die anthropotechnische Verbesserung des Menschen wiederauftaucht. In der Folge werden Tod, Krankheit und Behinderung immer radikaler aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Leben hinausgedrängt. »Zu den noch am wenigsten gelösten Schlüsselproblemen unserer Zivilisation«, schreibt Richter, »gehört der Umgang mit der Schwäche, mit der Zerbrechlichkeit, mit der Endlichkeit.« 55
Heute wird uns von allen Seiten schmerzhaft klargemacht, dass der Versuch des
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