Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
die Masse dem Willen einiger weniger oder eines Einzelnen untertan ist.
Das Streben nach Freiheit gilt uns heute gemeinhin als selbstverständliches Menschenrecht, gar als etwas, das seit eh und je in der Natur des Menschen angelegt ist. Dass dennoch mehr als zweitausend Jahre europäischer Geschichte vergehen mussten, bis mit der amerikanischen und der französischen Revolution die Idee der Menschenrechte und des demokratischen Rechtsstaats sich allmählich in einem kleinen Teil der Welt durchsetzte, dass es auch danach immer wieder zu schrecklichen Rückfällen kam, sollte allerdings nicht übersehen werden. Emanzipation ist, wie wir aus Erfahrung wissen, in aller Regel nicht konfliktlos und ohne Anstrengung zu haben, weil sie gegen die Arroganz der Macht und gegen tradierte Dummheit und Verantwortungsscheu erkämpft werden muss. Dennoch wird die grundsätzliche Legitimität des Projekts seit dem 18. Jahrhundert, abgesehen von hinterwäldlerischen Rassisten und Fundamentalisten, kaum noch ernsthaft in Zweifel gezogen. Und doch ist mit jedem Schritt auf dem Weg der Befreiung, wie die Geschichte zeigt, auch ein Erschrecken verbunden, ein Erschrecken über die eigene Kühnheit, ein Erschrecken vielleicht auch vor der Verantwortung,
die wir auf uns laden, wenn wir mit Kant den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit wagen. Es beschleicht uns, wenn wir uns aus Abhängigkeiten befreien, eine hartnäckige Angst vor den möglichen Folgen einer Reise ins Ungewisse, vielleicht manchmal auch immer noch die beklemmende Furcht, der Hybris der Selbstermächtigung könne die Strafe der Götter auf dem Fuße folgen.
Freiheit ist fraglos ein kostbares Gut, und wo sie uns vorenthalten wird, sehnen wir uns nach ihr wie nach dem Paradies. Aber zugleich ist Freiheit immer auch eine Quelle von Unsicherheit, nährt sie Ängste. Die eigene und die Freiheit der anderen. Wir können nicht sicher wissen, was in den Köpfen der anderen vor sich geht, welche Absichten sie hegen, ob sie womöglich etwas im Schilde führen, was uns schaden könnte. Die Freiheit der anderen, ob es sich dabei um Familienangehörige, Nachbarn oder Fremde handelt, ist zwar Voraussetzung unserer eigenen Freiheit, aber sie bedeutet auch Kontrollverlust. Der Staat, die Eliten, die Mächtigen haben Angst vor der Freiheit, weil emanzipierte Bürger im Gegensatz zu Untertanen nicht berechenbar sind, weil sie sich nach Lust und Laune vernetzen, sich mit anderen zusammentun, um wer weiß was auszuhecken. Auch die moderne Kontrollhysterie des Staates ist ein Produkt der Angst vor der Freiheit; und sie nimmt mit der größeren Bewegungs- und Informationsfreiheit der Menschen im digitalen Zeitalter noch einmal zu.
Wir neigen dazu, zu übersehen, dass Unsicherheit notwendig und unabänderlich zum Leben eines freien Menschen gehört, und träumen von einem Zustand absoluter Sicherheit, den es nicht gibt und den es, wenn wir unsere Humanität ernst nehmen, auch gar nicht geben sollte. In seinem großen Werk Angst im Abendland weist der französische Historiker Jean Delumeau nach, dass Zauberei, Hexenwahn und Judenverfolgung,
religiöse Ekstase und Inquisition im neuzeitlichen Europa nicht, wie es zum Beispiel bei Jacob Burckhardt den Anschein hat, als Überbleibsel »aus dem dunkelsten Mittelalter« anzusehen sind, sondern die Kehrseite des von Burckhardt so imposant geschilderten Prozesses darstellen, in dem der Mensch der Renaissance aus tradierten kollektiven Bindungen heraustritt und sich als freies Individuum begreift. Die individuelle Selbstermächtigung, das, was wir Freiheit nennen, ist offenbar von Anfang an mit Angst verbunden, und eben diese Angst ist das Eingangstor, durch das die Feinde der Freiheit und der Menschenrechte immer wieder einzudringen verstehen.
Derselbe Zusammenhang von kühnem Freiheitsdrang und zu Hysterie treibender Angst, den wir aus dem 16. Jahrhundert kennen, ist bei einem großen Teil der Akteure der Französischen Revolution aktenkundig. Die Raserei der Terreur ist – jedenfalls zum Teil – Ausfluss dieser Angst, der hysterischen Angst vor Unterwanderung, vor allgegenwärtigen Agenten des Adels, vor Ausländern allgemein und Engländern im Besonderen, vor allem aber der Angst vor der eigenen Kühnheit, die unbewusst vielleicht doch als Hybris betrachtet wird. Die Tatsache, dass viele Revolutionäre – unter ihnen Marat – Mesmers Séancen besuchten, andere vor wichtigen Entscheidungen Wahrsagerinnen zu Rate
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