Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
geplagt, die, so scheint es, die meisten heimsucht, die sich ins Offene wagen.
Oder ins Offene gestoßen werden. Barry Glassner zeigt in seinem Buch The Culture of Fear, dass die amerikanische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts von zahlreichen Ängsten heimgesucht wird, die überwiegend eingebildeten, von den Medien verstärkten oder erfundenen Gefahren gelten, während die realen Probleme oft übersehen oder verdrängt werden. Das gleiche Phänomen lässt sich auch in Europa, zumal in Deutschland, beobachten, und natürlich spielen die Medien hier eine entscheidende Rolle als Verstärker. Freilich sind die Medien nicht die Verursacher der Ängste. Diese scheinen vielmehr ihren tieferen Grund darin zu haben, dass immer mehr Menschen aus relativ stabilen Lebenszusammenhängen der Familie, der Nachbarschaft, des gemeinsamen Arbeitsortes etc. herausgerissen werden und sich weitgehend allein zurechtfinden müssen in einer unübersichtlichen, sich immer schneller wandelnden Welt.
Es spricht vieles dafür, dass Menschen besser mit dem Unbehagen und der Angst fertig werden, die neben dem Glücksgefühl und dem Bewusstsein der eigenen Stärke unabänderlich mit der Freiheit verbunden sind, wenn sie in stabilen sozialen Bezügen leben. Wenn sie nicht als atomisiertes Individuum ihrem Gott oder der Statuskonkurrenz oder den Unwägbarkeiten des Weltmarkts ausgeliefert sind. Darum ist die rituelle Bestätigung der Zusammengehörigkeit in kollektiven Festlichkeiten, wie Barbara Ehrenreich in ihrem Buch Dancing in the Streets aufgezeigt hat, so entscheidend, und darum war der Kampf der Puritaner und anderer religiöser Eiferer gegen die noch im Mittelalter so zahlreichen kollektiven Festlichkeiten
entscheidend dafür, dass in der Neuzeit wahre Epidemien der Angst und der Depression auftraten. In ganz ähnlicher Weise scheint die moderne Arbeits- und Konsumgesellschaft mit ihrer ins Extrem getriebenen Leistungsideologie und Individualisierung heute angsttreibend zu wirken.
Der Pädagoge Alfie Kohn arbeitet in seinem Buch The Brighter Side of Human Nature diesen Zusammenhang heraus: »Immer wieder haben Sozialkritiker auf die wahnsinnige Mobilität in der amerikanischen Gesellschaft hingewiesen, auf den Mangel an Gemeinschaftlichkeit und der Bindung an gemeinsame Werte oder an den Wert dessen, was man mit anderen teilt. Wir sind voneinander getrennt, wir sind so radikal auf uns selbst zurückgeworfen, dass wir es uns nicht einmal mehr gestatten können, unsere Entfremdung einzugestehen. Stattdessen benehmen wir uns wie einsame Seelen, die damit prahlen, frei von allen Fesseln und Beschränkungen zu leben, und bestehen darauf, dass es sich nicht um eine Zwangslage, sondern um ein frei gewähltes Schicksal, nicht um eine Krise, sondern um einen Zustand fortgeschrittener Wertentwicklung handelt.« 60
Eine andere Deutung des hier besprochenen Problems liefert Paul Virilio. Ausgehend von der Tatsache der ständigen Beschleunigung aller Prozesse in der modernen digitalen Gesellschaft und der damit einhergehenden Schrumpfung des Raums, glaubt er einen Wechsel von der Agoraphobie zur Klaustrophobie als Quelle des heutigen Angstpotentials festzustellen. 61 Der moderne Mensch, so Virilio, sei eingesperrt in eine »Welt der Unmittelbarkeit und der Simultaneität«. 62 Der Raum – und mit ihm alle Dinge und Personen –, der sich
früher um ihn herum – im Wortsinne – als Erfahrungs raum ausbreitete, sei ihm nun in jedem Moment in virtueller Simulation unmittelbar präsent, rücke ihm bedrohlich auf Leib und Seele, stelle sich seinem Drang, sich die Welt aus freien Stücken – d. h. für Virilio im sozialen Austausch mit anderen – anzueignen, in den Weg. Das so entstehende Gefühl der Beengtheit und der Atemnot löse klaustrophobische Ängste aus, mit denen das der sozialen Erfahrung beraubte Individuum heute allein gelassen werde, sodass es sie in aller Regel nicht verarbeiten könne.
Wenn Virilio recht hat, hätten wir es mit einer bedeutenden Veränderung der Lage zu tun. Aus der Angst vor der Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens würde nun die Angst vor dem radikalen Verlust der Freiheit , weil der Raum, den es zu gestalten gilt, dem medial vernetzten Individuum immer schon als besetzter virtueller Raum vorgegeben ist. Die tödliche Gefahr für die Freiheit besteht nach Virilio nicht mehr darin, dass die Menschen aus Angst vor den Strapazen und
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