Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Machtvorsprung so lange wie möglich zu erhalten. Wir verbarrikadieren uns in unserem Wohlstand, obwohl wir längst wissen, dass wir ihn nicht werden sichern können, wenn wir ihn nicht mit den anderen teilen. Wir reden zwar von Globalisierung, von globaler Verantwortung, von der Notwendigkeit einer gerechten vorwärtsweisenden Weltinnenpolitik, aber wenn es praktisch wird, wenn es um faire Handelsbeziehungen, um den Zugang zu wichtigen Ressourcen, wenn es um das Teilen von Macht und Reichtum geht, sind alle guten Vorsätze zumeist schnell wieder vergessen. Auch darum ist der Zustand der Welt, wie er ist, werden seit Jahrzehnten G8-, G12-, G20-Gipfel veranstaltet, folgt eine UNO-Konferenz der anderen, während sich die soziale Situation der Mehrheit der Weltbevölkerung verschlechtert, wichtige Rohstoffe, Nahrung und trinkbares Wasser knapp werden und die Erderwärmung mit ihren absehbar katastrophalen Folgen weiter zunimmt.
Vielleicht ist der tiefste Grund der modernen Angst in einem nicht offen eingestandenen Schuldgefühl zu sehen, das mit unserer immer destruktiver werdenden Wirtschafts- und Lebensweise zu tun hat. Selbst wenn wir uns mit den ökologischen Fragen im Detail nicht auskennen, so wissen wir doch in aller Regel, dass wir mit unserer Art zu wirtschaften und zu leben die Biosphäre verwüsten und unseren Kindern und Enkeln damit die Zukunft verbauen. Auch wenn wir es zu verdrängen suchen, wir sind uns doch zumeist bewusst, dass, während wir im Überfluss leben, Millionen von Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien in Armut dahinvegetieren und Hunger leiden. Die Staaten des Westens, in denen nicht mehr als zwölf Prozent der Weltbevölkerung leben, schreibt
Jean Ziegler in seinem Buch Der Hass auf den Westen, hätten mit ihren großen Konzernen und der von ihnen dirigierten Finanzwirtschaft sich die ganze Welt unterworfen; sie seien verantwortlich für Hunger, Elend und Unterentwicklung. In der Tat ist es nicht leicht, sich der Einsicht zu entziehen, dass wir alle, die wir vom gegenwärtigen Zustand der Welt profitieren, Komplizen der Spekulanten und Ausbeuter sind. In unserer säkularisierten Kultur werden zwar nur wenige Menschen die archaische Vorstellung teilen, dass unsere Hybris zwangsläufig ein göttliches Strafgericht nach sich ziehen werde. Aber die Erwartung einer Art poena naturalis , die ja auch immer eine Schuld voraussetzt, ist möglicherweise unterschwellig auch in unserer modernen Zivilisation virulent und erzeugt heute bei vielen Menschen ein Gefühl schuldhafter Bedrückung, das sich zwar verdrängen, aber in seiner Wirkung nicht ganz ausschalten lässt.
Wieder einmal, wie am Ende der Antike und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, verstärkt sich das Gefühl, in einer Endzeit zu leben. Leben mit dem »Restrisiko«, wie lange kann das noch gutgehen? Die Rechnung für die Zerstörung der Biosphäre, für die Verschwendung des über viele Jahrtausende angesammelten Naturkapitals, für die Missachtung der Lebensinteressen der Mehrheit der Weltbevölkerung, für die leichtfertige Überschreitung von Grenzen des Verantwortbaren, wird sie uns heute präsentiert? Müssen wir jetzt für das bezahlen, was wir in unserem Machtrausch angerichtet haben? Lars von Trier hat in dem Film Melancholia diese Stimmung in bedrückende Bilder gefasst. Am Ende kommt über die verängstigten Menschen in ihrem prächtigen Schloss ein allen heilsgeschichtlichen Sinns beraubtes apokalyptisches Geschehen: Der Planet Melancholia kollidiert mit der Erde und alles Leben, jedenfalls alles höhere, wird auf einen Schlag vernichtet. Die Einzige, die das Verhängnis kommen sieht, ist die depressive Schwester der Hausherrin, und, weil sie längst
alle Hoffnung aufgegeben hat, ist sie auch die Einzige, die weiß, was zu tun ist: die hektische Suche nach einem Ausweg aufgeben und das Unvermeidliche gefasst über sich ergehen lassen.
Die Hellsicht des verdunkelten Gemüts – das alte Kassandramotiv gewinnt heute wieder an Faszination. Plötzlich werden technische Katastrophen, die längst in Büchern und Filmen zu unterhaltsamen Erzählungen verarbeitet wurden und all ihre Schrecken verloren zu haben schienen, wieder zu ominösen Zeichen, die wir zuvor in unserem Hochmut meinten missachten zu können. Die »unsinkbare« Titanic geht am 15. April 1912, zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, unter und mit ihr eintausendfünfhundert Menschen. War das eine frühe Warnung? Am 3. Mai 1937, zwei
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