Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Unwägbarkeiten einer autonomen Lebensgestaltung in die Sicherheit autoritär geregelter Gemeinschaften fliehen könnten, sondern darin, dass ihnen als radikale Individuen im digitalen Zeitalter der soziale Gestaltungsraum endgültig abhandenkommen könnte.
Offenbar haben wir es heute mit zwei entgegengesetzten Tendenzen zu tun, die in gleicher Weise Angst erzeugen und zu Fluchtbewegungen inspirieren: zum einen die Flucht vor den Zumutungen der Überindividualisierung in die (nach außen abgeschlossene) Gemeinschaft , die wie Zygmunt Baumann zu Recht feststellt, Sicherheit und Geborgenheit verspricht, aber mit dem Verlust von Freiheit bezahlt werden muss, und zum anderen die Flucht vor der erdrückenden Dauerpräsenz eines virtualisierten Sozialen in die Traumwelt einer neoanarchistischen Asozialität. Auf beiden Fluchtwegen könnten die
überforderten Individuen das Maß an Freiheit verspielen, das unter Menschen möglich ist. Denn wenn es richtig ist, dass Freiheit in der modernen Welt nur als institutionalisierte, d. h. durch die gleiche Freiheit der anderen begrenzte und normierte Freiheit möglich ist, kommt es darauf an, die Balance zwischen individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung zu erhalten. Diese Aufgabe ist nicht anders zu bewältigen als durch mühsames Aushandeln kompromissbeladener Konsense. Die Kraft zu dieser Leistung werden die Individuen allerdings nur aufbringen, wenn sie sich zumindest zeitweise in gemeinschaftliche Ruhezonen zurückziehen können. Aus diesem Grunde kann die schroffe Entgegensetzung von Gemeinschaft und Freiheit, die Zygmunt Baumann in seinem Buch Gemeinschaften – Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt vornimmt, nicht das letzte Wort sein.
Wenn wir verhindern wollen, dass die Überforderung der Menschen durch die extreme Individualisierung zu einer massenhaften Flucht aus der Freiheit unter die Fittiche einer neuen Despotie oder zu massenhafter Isolationshaft im Kerker bloß noch virtueller Weltwahrnehmung führt, müssen wir die soziale Dimension des Individuums wieder ins Licht rücken und die Gesellschaft so organisieren, dass die kooperativen Leistungen der Menschen ermutigt und ihre existenzielle Angewiesenheit auf ihre Mitmenschen von vornherein berücksichtigt wird. Statt der Chimäre des radikalen Leistungsindividualismus und dem falschen Idealbild des heroischen Einzelkämpfers weiter nachzulaufen, sollten wir uns endlich der Tatsache stellen, dass der Mensch Individuum und Sozialwesen ist und nur als Einheit von beiden sich seine Freiheit erhalten und sein Glück finden kann. Nur wenn wir Freiheit nicht nur als eine Sache des auf sich allein gestellten Individuums begreifen, wenn wir Freiheit nicht nur als Wahlfreiheit, sondern auch wieder als das Recht und die Aufgabe begreifen, zusammen mit anderen die eigenen Lebensumstände
zu gestalten, können wir einigermaßen sicher sein, dass die Angst vor der Freiheit nicht in eine neue Form der freiwilligen Knechtschaft mündet.
Im tiefsten Grund unserer Seele ahnen wir vielleicht, dass die Idee der Freiheit mit der condition humaine nicht so einfach in Einklang zu bringen ist, wie die demokratische Sonntagsrhetorik es zumeist suggeriert, dass wir tatsächlich ein Wagnis eingehen, wenn wir den Versuch machen, uns auf die eigenen Füße zu stellen und uns von einem Teil der Zwänge zu befreien, die unser Leben von Geburt an bestimmen. Denn Freiheit bedeutet immer auch, dass wir uns auf ungesichertes Terrain begeben, dass wir Verantwortung übernehmen müssen für Dinge, die nicht vollständig unserer Kontrolle unterliegen. Der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« verlangt, wie Kant richtig sah, nicht nur Einsicht, sondern auch Mut: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Schütze nicht aus Angst vor der Freiheit einen Befehlsnotstand vor, verstecke dich nicht hinter persönlichen Autoritäten, hinter dem Weltgeist oder dem Weltmarkt, hinter der Partei oder hinter Sachzwängen! Lass dich nicht mit einer virtuellen Ersatzrealität abspeisen. Vergiss nicht, dass deine Freiheit die der anderen zur Voraussetzung hat, dass sie mehr ist als die Wahl zwischen vorgegebenen Optionen, dass sie sich erst in der kooperativen Gestaltung der Lebensumstände erfüllt. Übernimm Verantwortung für dein eigenes Leben, das ein endliches ist.
1. Vorhersehen und Vorbeugen
Die klassischen Methoden der Gefahrenabwehr, die sich in
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