Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Jahrtausenden menschlicher Geschichte entwickelt haben, die Ausgrenzung der Gefahr und ihre Verarbeitung zu geteilten, d. h. gemeinsam getragenen Risiken, sind durch die wissenschaftlich-technisch-ökonomische Entwicklung keineswegs schlechthin obsolet geworden. Zwar gelingt, wie wir gesehen haben, die Ausgrenzung der Gefahr in manchen besonders kritischen Fällen von Bedrohung nicht mehr, und das Versicherungsprinzip versagt heute gerade dort, wo die Gefahr am größten ist. Aber d. h. keineswegs, dass diese Techniken der Gewinnung von Sicherheit in Zukunft keine Rolle mehr spielen werden. Im Gegenteil wird es z. B. darauf ankommen, dem weiteren Abbau sozialer Sicherungsleistungen und der zunehmenden Entsolidarisierung des Versicherungsschutzes durch die Separierung sogenannter guter Risiken entgegenzuwirken. Die aufstrebenden Schwellenländer China, Indien und Brasilien werden in den nächsten Jahren gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, um ein halbwegs tragfähiges Netz sozialer Sicherung zu errichten. Darüber hinaus wird es in Zukunft noch wichtiger werden, dass es geschützte Räume für Einzelne und Gemeinschaften gibt, dass Grenzen respektiert, die Privatsphäre nicht dem Kontrollwahn von Behörden oder Unternehmen zum Opfer fällt, der Mensch sich im digitalen Zeitalter nicht selbst zum gläsernen Menschen macht.
Auch die verbesserte sicherheitstechnische Ausstattung von Gebäuden, Haushaltsgeräten, Autos und anderen Fortbewegungsmitteln zum Zweck der Vermeidung von Unfällen, die Anstrengungen zur Verringerung von umweltschädlichen Emissionen, die Sicherung von Grenzen und die Bekämpfung von Krankheit und Kriminalität, ganz allgemein die Nutzung des jeweils avanciertesten Wissens und technischen Könnens
zur Schaffung von mehr Sicherheit – all das wird auch weiterhin eine bedeutende, wahrscheinlich sogar eine wachsende Rolle spielen. Ohne diese Maßnahmen wäre ein halbwegs geordnetes Leben in einer modernen Gesellschaft gar nicht denkbar. Die Frage aber ist, ob solche technisch-organisatorischen Interventionen ausreichen, um der wachsenden Angst in der modernen Gesellschaft entgegenzuwirken, ob ihre Perfektionierung tatsächlich der Königsweg zu einem weitgehend angstfreien Leben ist. Wir wollen dies im Folgenden am Thema der vorbeugenden Gefahrenabwehr diskutieren.
Unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit wäre eine Gesellschaft ideal, in der es den Menschen gelingt, alle potenziellen Gefahren im Vorhinein zu identifizieren, um dann mit technisch-organisatorischen Mitteln im Sinne der Gefahrenabwehr vorbeugend tätig werden zu können. Nun wissen wir in aller Regel, dass dies in der manchem Sicherheitsexperten wünschenswert erscheinenden Radikalität gar nicht möglich ist. Absolute Sicherheit gibt es nicht, allein schon, weil wir niemals alle Gefährdungen voraussehend erfassen können. Aber obwohl wir wissen, dass das Ideal absoluter Sicherheit nie erreichbar sein wird, arbeiten wir unermüdlich daran, uns dem Idealzustand zu nähern. Geradezu besessen fahnden wir in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens nach verborgenen Risiken, die es dann nach Möglichkeit durch technisch-organisatorische Vorkehrungen auszuschalten gilt, und übersehen dabei, dass das, was wir zumeist für ein leider nie ganz erreichbares Optimum halten, im Grunde ein destruktives Ideal ist.
Der Haushalt ist im Verständnis der Sicherheitsexperten einer der gefährlichsten Orte, an denen man sich aufhalten kann. In der deutschen Statistik der Unfallhäufigkeit stehen Haushaltsunfälle – zurzeit drei Millionen im Jahr – an erster Stelle, noch vor den Verkehrs-, Berufs- und Sportunfällen. Haushaltsunfälle
nach Möglichkeit zu verhindern, ist das Ziel zahlreicher technischer Innovationen. Eine der einfallsreichsten und zugleich teuersten: die elektrisch betriebene Haushaltshebebühne mit hüfthohem Geländer, mit der die Hausfrau gefahrlos die gewaschenen Gardinen aufhängen kann.
Ein anderer hot spot der Sicherheitstechnik ist der Straßenverkehr. Motorradfahrer sind genauso schnell, aber weniger geschützt als Autofahrer. Deshalb werden sie gesetzlich verpflichtet, einen Helm zu tragen, während bei den Autofahrern – vorerst – Gurt, Überrollbügel, ABS-Bremssystem und Einparkhilfe genügen. Inzwischen gilt die Helmpflicht mancherorts auch für Radfahrer, und demnächst wird sie wohl auch auf den Skipisten eingeführt. Solche Maßnahmen verringern zwar nicht die Zahl der Unfälle,
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