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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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Menschen in Risiken nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance erblicken können. Wer seine Lage verbessern, sich ein begehrtes Gut sichern oder ein erstrebenswertes Ziel erreichen will, wird in einer Gesellschaft, in der das Versicherungsprinzip eine wichtige Rolle spielt, dazu angehalten, bei all seinen Aktionen das Risiko zu kalkulieren und es gegebenenfalls bewusst in Kauf zu nehmen.
     
    Das ändert sich grundlegend, wenn das Präventionsprinzip in allen Lebensbereichen dominant wird. Während heute in
vielen Bereichen der Versicherungsschutz durchlöchert und abgebaut wird, tritt an seine Stelle der Gedanke, Risiken um (fast) jeden Preis zu vermeiden und, wo immer möglich, vorbeugend tätig zu werden. Nun ist der Gedanke der Vorbeugung ja nicht generell verkehrt. Im Gegenteil, bei den großen Bedrohungen, denen wir heute ausgesetzt sind, bei der Erderwärmung etwa, bei der sich zuspitzenden Rohstoff- und Nahrungsmittelknappheit oder beim Terrorismus, sind Ursachenerforschung und soziale und technische Vorbeugung die einzigen denkbaren und Erfolg versprechenden Strategien der Gefahrenabwehr. Auch bei vielen sozialen und gesundheitlichen Problemen erscheint es sinnvoll, sich zum Zwecke der Vorbeugung auf die verursachenden Lebenslagen (Arbeitsbedingungen, Wohnumwelt, Zugang zu Bildung etc.) zu konzentrieren. Weil Klaus Heilmann und John Urquhart in ihrem Buch Keine Angst vor der Angst diesen Aspekt vernachlässigen, läuft ihre Argumentation allzu oft auf einen ziemlich läppischen moralischen Appell zu mehr Risikoakzeptanz hinaus. Wo es erkennbar soziale Ursachen sind, die die individuellen Probleme erzeugen, wo die Größe der Gefahr jede Möglichkeit der (monetären) Entschädigung von vornherein absurd erscheinen lässt und daher das Versicherungsprinzip nicht anwendbar ist, ist auch die Aufforderung zu mehr Risikoakzeptanz unangebracht. Richtig ist dagegen – und in diesem Punkt ist Heilmann und Urquhart zuzustimmen –, dass eine Gesellschaft, in der Risiken prinzipiell nicht mehr als Chancen verstanden werden und Prävention zur allgemeinen Leitlinie wird, in Gefahr gerät, ihre Dynamik und Innovationskraft und am Ende sogar die Freiheit einzubüßen.
     
    Besonders gefährlich ist die uferlose Ausweitung des Präventionsgedankens, wenn er auf das Feld der Kriminalität angewandt wird. Natürlich, auch hier ist zunächst einzuräumen, dass die Berücksichtigung sozialer Ursachen von Kriminalität zu einer wirksamen Strategie der Vorbeugung führen kann,
wie sich in den letzten Jahren zum Beispiel bei der Jugendkriminalität gezeigt hat. An dieser Stelle schießen viele Kritiker des Präventionsprinzips deutlich über das Ziel hinaus. 63 Gefährlich für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wird es aber, wenn die Bemühungen zur Kriminalitätsvorbeugung, wie zunehmend zu beobachten ist, mit einer gewissen Konsequenz dazu führen, dass immer öfter potenzielle Täter und Tätergruppen zum Gegenstand von Beobachtung und Ermittlung werden. Der für den Rechtsstaat konstitutive Grundsatz der Unschuldsvermutung wird außer Kraft gesetzt, sobald die Strafverfolgungsbehörden aus Gründen der Vorbeugung und ohne konkreten Verdacht nicht nur Gewalttäter, sondern auch sogenannte Gewaltbereite , nicht nur Verdächtige, sondern auch sogenannte Sympathisanten bzw. Gefährder ins Visier nehmen.
     
    Der amerikanische Präsident George W. Bush hat in seiner berüchtigten West Point Address vom 3. Juni 2002 die diesem Vorgehen zugrunde liegende Denkweise in aller Schlichtheit enthüllt: »If we wait for threats to fully materialize, we will have waited too long.« (Wenn wir so lange warten, bis die Bedrohungen real geworden sind, haben wir zu lange gewartet.) Die Logik, mit der Bush Anfang 2002 den Präventivkrieg gegen den Irak begründete, ist im Kern dieselbe, mit der Polizeipräsidenten und Justizminister die Rasterfahndung, die Videoüberwachung von Demonstranten oder die Vorratsdatenspeicherung, und mit der Geheimdienste die Bespitzelung unbescholtener Bürger rechtfertigen. Wenn Sicherheit absolute Priorität genießt, dann erscheint es als unverantwortlicher Leichtsinn, so lange zu warten, bis man Beweise hat oder ein begründeter Verdacht vorliegt, dann fühlt man sich verpflichtet, vorbeugend zu handeln, auch wenn dabei Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Schaden nehmen. Diese Tendenz
haben Ilija Trojanow und Juli Zeh im Auge, wenn sie – ein wenig zu pauschal – feststellen: »Sicherheitsstrategien,

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