Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
weil die Fahrer, wenn sie sich sicherer fühlen, dazu neigen, weniger vorsichtig zu fahren; sie können aber die Folgen von Unfällen abmildern.
Die Schwachstelle in den technischen Systemen sind die Menschen, die sie bedienen. Sie ermüden, lassen in ihrer Konzentration nach, machen Fehler, lassen sich in übermütiger Stimmung zu gefährlichen Mutproben hinreißen, werden abgelenkt oder geraten plötzlich in Panik, reagieren falsch und lösen womöglich eine Katastrophe aus. Menschliches Versagen nach Möglichkeit auszuschließen, wird zum obersten Ziel der Gefahrenprävention. Aus Sicht der Sicherheitsingenieure ist hierbei die Technische Prävention das Ei des Kolumbus . Ein Beispiel: Geisterfahrer auf der Autobahn sind eine tödliche Gefahr. Man kann sie am Befahren der Autobahn hindern, wenn eine Lichtschranke in entsprechend umgerüsteten Fahrzeugen automatisch eine Vollbremsung auslöst, sobald diese in die falsche Auffahrt zur Autobahn einbiegen.
Gerade das Auto bietet noch viel Raum zur Gefahrenminimierung. Technisch ist es z. B. heute kein Problem mehr, Autos
so auszustatten, dass sie sich automatisch der jeweils vorgeschriebenen Geschwindigkeit anpassen. Zwar würden die öffentlichen Kassen dadurch eine wichtige Einnahmequelle verlieren, weil die Millionen Bußgelder, die bei Geschwindigkeitsüberschreitung zu zahlen sind, entfielen, aber vermutlich würde eine solche Maßnahme die Zahl der Unfälle erheblich senken und so tatsächlich auf Straßen und Autobahnen für mehr Sicherheit sorgen. Sogar Verkehrsleitsysteme, bei denen der Fahrer überhaupt nicht mehr gebraucht wird, sind heute machbar und werden vielleicht bald auf vielbefahrenen Strecken installiert. Unter Sicherheitsaspekten erscheint es durchaus plausibel, dass das Navigationssystem auch gleich das Lenken des Autos übernimmt und so den potenziellen Unsicherheitsfaktor Mensch ausschaltet.
Freilich, was im Einzelfall jeweils vernünftig erscheinen mag, kann sich in der Summe zum Problem auswachsen. Wie werden Menschen, denen in immer mehr Bereichen Entscheidungen abgenommen werden, die in einer rundum abgesicherten Umgebung leben, sich verhalten, wenn die Technik doch einmal versagt, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert? Werden sie überhaupt noch in der Lage sein, halbwegs überlegt und zweckgerichtet zu reagieren? Oder werden sie in Panik geraten und erratisch auf jede greifbare Fernbedienung drücken in der Hoffnung, dass von irgendwoher die Lösung kommt? Vermutlich könnten wir die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wirkungsvoll behindern, wenn, zumindest in den Großstädten, alle Menschen auf der Straße Atemmasken trügen, wenn wir uns das Händeschütteln abgewöhnten und einander auch sonst möglichst nicht zu nahe kämen. Ein Film wie der auf dem Film-Festival in Venedig 2011 gezeigte Thriller Contagion (zu Deutsch: Ansteckung!) des amerikanischen Regisseurs Steven Soderbergh legt tatsächlich solche verzweifelten Vorsichtsmaßnahmen nahe. Vermutlich ließe sich die Zahl der Hautabschürfungen, Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen
bei Kindern deutlich verringern, wenn wir in allen Schulen und Kindergärten, auf allen Schulhöfen und Spielplätzen den Boden mit weichem Plastikmaterial belegten. Aber wäre eine solche Übervorsicht und Überfürsorglichkeit wirklich sinnvoll? Wollen wir nicht doch lieber riskieren, gelegentlich einen Schnupfen oder eine Grippe zu bekommen? Kann es tatsächlich unser Ziel sein, unsere Kinder in einer Welt ohne Risiken und Gefahren aufwachsen zu lassen? Wollen wir ihnen alle eigene Erfahrung im Umgang mit Gefahren ersparen, die Erfahrung der Angst und die Erfahrung der Erleichterung und des Stolzes, wenn man die Gefahr mit Mut und Geschicklichkeit überwunden hat?
Der Umgang mit Risiken kann vernünftigerweise nicht allein darin bestehen, sie nach Möglichkeit auszuschalten. Das Versicherungsprinzip konzentriert sich denn auch darauf, mögliche negative Folgen riskanter Aktionen oder prekärer Lebenslagen durch Kollektivierung der Verantwortung abzumildern, und nicht darauf, das Eintreten des Schadensfalls nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden. Dabei geht man davon aus, dass normalerweise niemand den Schadensfall leichtfertig oder absichtlich herbeiführt, und wenn das dennoch geschieht, kann die monetäre Kompensation verweigert werden. Die für die Entwicklung der modernen Gesellschaft entscheidende Wirkung des Versicherungsprinzips liegt aber darin, dass die
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