Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Magie des großen Steigerungsspiels so sehr gefangen, dass das metaphysische Vakuum uns nicht allzu sehr schreckte. Zahlen geben Sinn, größere Zahlen geben mehr und vermeintlich tieferen Sinn – das war die magische Logik, die unser Leben stabilisierte und teilweise noch heute stabilisiert. Kapitalismus als reine Kultreligion – was schon bei Max Weber und Walter Benjamin theoretisch erwogen wurde, hat sich seit den späten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im globalen Finanzkapitalismus wohl am eindruckvollsten praktisch manifestiert. 77
Nun gab es immer schon Ein- und Umbrüche, die den Fortschrittsglauben vorübergehend erschütterten. Aber heute sind wir an einem Punkt angelangt, da sich mit Klimawandel, Rohstoffknappheit und Weltfinanzkrise, mit all den Widersprüchen und Gefahren der wissenschaftlich-technischen
Welt ein Problemberg auftürmt, der das Ende der bisherigen Fortschrittsentwicklung und ihrer sinnstiftenden Zahlenmagie anzukündigen scheint. Die Zukunft des Schneller-Höher-Weiter und Immer-Mehr verliert ihren verheißungsvollen Glanz, der Horizont verdüstert sich. Savoir pour prévoir – das Motto, unter dem sich die Aufklärer auf den Weg machten, um zu erkunden, was die Welt im Innersten zusammenhält, verliert seinen erkenntnis- und lebensleitenden Sinn in unserer Welt der »flüchtigen Moderne«, in der »alles, was Sicherheit bietet, verdampft«, 78 die sich so schnell und so chaotisch verändert, dass in ihr Kontinuitäten kaum noch zu erkennen sind. Wer die Gesetze der Natur, wer die Gesetze des Lebens und der Geschichte entschlüsselt, so die Hoffnung, die die Aufklärer beseelte, dem werde auch die Zukunft zu einem offenen Buch werden, in dem er nach Belieben blättern könne. Aber wer sich mit der Geschichte der wissenschaftlichen Prognostik, der Trendforschung und der Futurologie ein wenig beschäftigt, der kann nicht übersehen, dass diese »Wissenschaften« kaum leistungsfähiger sind als der Hofastrologe früherer Zeiten, die Wahrsagerin in ihrem Jahrmarktszelt oder das Horoskop in der Boulevardzeitung. Da helfen, wie die Weltfinanzkrise wieder einmal nachdrücklich bestätigt hat, auch alle komplizierten mathematischen Formeln, alle modernen Rechenmodelle, alle mit Kurven, Kreissegmenten und Säulen gespickten Gutachten, da hilft auch die Erhebung und Verarbeitung riesiger Datenmengen nicht.
Kein Wunder also, dass sich heute wieder eine vage Sehnsucht nach tieferer, transzendental verbürgter Gewissheit ausbreitet und dabei auch das breiter gewordene Spektrum religiöser Angebote in den Blick kommt. Aber das bedeutet keineswegs, dass die Menschen heute in großer Zahl bereit und fähig wären, jenes sacrificium rationis zu erbringen, ohne
das die Geborgenheit in einer geschlossenen Weltanschauung nicht zu haben ist. Genauso wie wir das Wissen, das zum Bau der Atombombe führte, nicht einfach wieder vergessen können, ist es uns nicht ohne Weiteres möglich, den einmal eingeschlagenen Weg vernünftiger Begründung und Kritik zu verlassen, wenn uns das vielleicht opportun erscheint und wir uns davon Sicherheit und Geborgenheit versprechen. Das erweist sich u. a. daran, dass die Zugehörigkeit zu religiösen oder weltanschaulichen Glaubensgemeinschaften heute in den meisten Fällen keineswegs so entschieden und total ist, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Vielfach ist es wohl vor allem das Erlebnis der Gemeinschaftlichkeit, sind es gewisse rituelle Verrichtungen, die regelmäßigen Treffen und der Trost spendende Austausch mit anderen Menschen und immer noch Tradition und Gewohnheit, die für die Bindung entscheidend sind, weil sie im Chaos des eigenen Lebens ein gewisses Maß an Ordnung stiften und ein Gefühl der Beheimatung hervorrufen. Wenn diese sozialen Vorteile nur zu haben sind, wenn man sich auch, zumindest äußerlich, zu den damit verbundenen theoretischen oder weltanschaulichen Positionen bekennt, so wird das oftmals mit einer gewissen Nonchalance akzeptiert, selbst dann, wenn diese Positionen im krassen Widerspruch zu den stillschweigenden theoretischen Annahmen stehen, die die eigene alltägliche Praxis anleiten. In diesem Sinn ist der typische Protestant, ist der typische Katholik heute ein lauer Christ.
Dort, wo heute dogmatische Positionen und die damit verbundene Verweigerung von Diskussion und Begründung wieder vermehrt Zulauf finden, geschieht dies wohl nur selten aus tiefer Glaubensüberzeugung. Vermutlich
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